Das Problem der guten Noten

Schüler*innen, die gute Noten erhalten, lenken vom #ungrading-Problem ab, obwohl sie ein elementarer Teil des Problems sind. Das scheint zunächst kontraintuitiv, zumal diese Schüler*innen ja nicht unter Noten leiden, sondern oft Motivation und Lernfreude aus guten Noten ziehen. Diese Schüler*innen spornen auch Lehrkräfte an, deren Anstrengung Früchte zu tragen scheint. Wo liegt das Problem bei den guten Noten?

  1. Gute Noten gibt es nur, wenn es schlechte Noten gibt.
    Das ist ein statistisches und ein logisches Argument: Noten folgen Verteilungen, sollten gemäß verbreiteter Vorstellungen etwas messen, was natürlich verteilt ist – ergo sollten sie normalverteilt sein. D.h. es gibt wenig gute, viele mittelmäßige und wenig schlechte Noten. Das ist das statistische Argument. Das logische: Gute Noten haben nur dann eine Bedeutung, wenn es auch schlechte gibt.
    Fasst man beide Argumente zusammen, dann entstehen gute Noten auf Kosten von schlechten. Gute Noten sind im System begrenzt verfügbar, wer eine hat, nimmt anderen eine weg.
    Besonders Lehrkräfte aus Deutschland, die innerhalb strikter Vorgaben benoten müssen, zweifeln daran. Sie behaupten in Bezug auf ihre eigene Praxis, dass alle Schüler*innen gute Noten erreichen könnten. Nur passiert das halt nicht. In dieser Sichtweise wird übersehen, dass die Konstruktion von Prüfungen, ihre Durchführung (mit beschränkter Zeit) und die Forderung nach Vergleichbarkeit von Leistungen dazu führen, dass eine statistische Verteilung erreicht wird.
  2. Gute Noten suggerieren, dass der Unterricht eigentlich funktioniert. Schlechte Noten sollten Lehrpersonen vor Augen führen, dass Schüler*innen Lernziele nicht erreichen konnten. Das sollte ein Anlass sein, Settings zu überdenken und Möglichkeiten zu schaffen, in denen alle gute Noten erreichen können, weil sie die Lernziele erfüllen. Warum passiert das nicht?
    Weil es gute Noten gibt. Schüler*innen mit guten Noten entlasten Lehrkräfte. Sie zeigen, dass es »eigentlich« möglich wäre, die Lernziele zu erreichen.
  3. Gute Noten suggerieren, dass sich die Schüler*innen mit den schlechten Noten den Misserfolg selber zuzuschreiben haben.
    So können im System aber auch in der persönlichen Reflexion die schlechten Schüler*innen für ihre Leistungen verantwortlich gemacht werden: Sie haben nur deshalb schlechte Noten, weil sie zu wenig arbeiten, weil sie nicht zugehört haben, weil sie die Aufgaben nicht richtig gelesen haben… Die Verantwortung liegt nicht mehr bei der Schule oder bei der Lehrperson, sondern bei den Lernenden. Gäbe es keine guten Noten, wäre das nicht so.
  4. Gute Noten scheinen ein Grund zu sein, weshalb Benotung beibehalten werden sollte.
    Noten sollten aus allen Lernbereichen so schnell wie möglich komplett verschwinden. Sie sind ungenau, unfair und belasten Lernprozesse unnötig. Diese fundamentale Einsicht ist wissenschaftlich breit abgestützt. Sie setzt sich unter anderem deshalb nicht durch, weil Entscheidungsträger*innen oft selber gute Noten erhalten haben. Sie führen ihren Erfolg auf gute Leistungen in der Schule oder im Studium zurück.
    Ich vergleiche Fortschritte in Bezug auf Noten oft mit Veränderungen beim Rauchen: Lange konnte an Schulen geraucht werden, in Arbeitszimmern, auf dem Flur, teilweise auch in Schulzimmern. In den 1990er-Jahren wurde diese Möglichkeiten praktisch ganz eingestellt, heute sind Schulen bis auf wenige Außenbereiche rauchfrei. Der Vergleich zeigt, wie lange es gehen kann, bis sich etwas ändert – Change aber dennoch denkbar ist. Der Unterschied von Noten zu Rauchen: Beim Rauchen ist allen klar, dass es schädlich ist und dass Rauchluft stinkt. Rauchen war immer eine Belastung, die man einfach ertragen hat. Noten funktionieren genau gleich, werden von einigen aber als Belohnung wahrgenommen. Wer sich anstrengt, erwartet davon ein gutes Gefühl, Noten geben dieses gute Gefühl. Weshalb sollten sich Schüler*innen anstrengen, wenn sie keine Noten mehr erhalten? Diese Frage geht immer von guten Noten aus. Sie ignoriert, dass auch gute Schüler*innen erstens unter Noten psychisch leiden und zweitens selten zufrieden sind mit Prüfungsleistungen, weil auch sie ständig Dinge vergessen, im Stress falsch aufschreiben oder unter den verschiedenen Verzerrung der Leistungsbeurteilung leiden.
Illustration: Midjourney, a student receives a good grade and is happy, other students are sad, illustration, v4 (upscaled)

 

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