Wie Prüfungen zur Idee der Meritokratie geführt haben
Hannah Arendt hielt 1958 eine Rede über die Krise der Erziehung. (Darin steht der wunderbare Satz: »In der Erziehung entscheidet sich, ob wir die Welt genug lieben, um die Verantwortung für sie zu übernehmen […]«) Aus amerikanischer Perspektive spricht sie darin über das britische System, Studierende auszuwählen:
Was in England erzielt wird, ist offenbar wieder die Heranbildung einer Oligarchie, diesmal nicht des Reichtums und nicht der Geburt, sondern der Begabung. Das aber heißt, auch wenn man sich dies in England nicht so klarmachen sollte, daß das Land […] so regiert werden wird, wie es seit eh und je regiert worden ist, nämlich weder monarchisch noch demokratisch, sondern oligarchisch oder aristokratisch […]. In Amerika würde man eine solche gleichsam physische Scheidung der Kinder in Begabte und Unbegabte für unerträglich halten. Sie widerspricht dem Prinzip der Gleichheit, der egalitären Demokratie.
In der englischen Übersetzung, die ebenfalls 1958 in der Partisan Review erschien, verwendet Arendt im ersten hier zitierten Satz das Wort »Meritokratie«:
What is aimed at in England is “meritocracy,” which is clearly once more the establishment of an oligarchy, this time not of wealth or of birth but of talent.
Das Wort »Meritokratie« klingt antik, ist es aber nicht – es im selben Jahr, also 1958, vom britischen Soziologen Michael Dunlop Young erfunden. Wie Arendt verwendet Young den Begriff kritisch. Er bezieht ihn auf die Frage, wie eine Elite, die ein Land regieren könnte, ausgewählt werden könnte. Der griechische Begriff »Aristokratie« steht ursprünglich genau dafür: für die Herrschaft der Besten. Hören wir heute »Aristokratie« oder »aristokratisch«, dann klingt darin aber die Vorstellung einer privilegierten Herrscherklasse an, welche ihre Macht vererbt. Aus diesen Gründen wurde in den USA schon länger diskutiert, wie eine Elite ausgewählt werden soll, bei der es sich tatsächlich um die geeignetsten Menschen handelt. Young und Arendt kritisieren die Vorstellung einer Herrschaft einer Elite – unabhängig davon, wie diese ausgewählt wird. Paradoxerweise schuf aber Young den Begriff dafür: Meritokratie meint Herrschaft aufgrund von Leistung.
In seinem Buch »The Big Test« zeigt Nicholas Leeman, wie James Bryant Conant, ein ehemaliger Präsident von Harvard, zusammen mit Henry Chauncey den SAT-Test während und nach dem Zweiten Weltkrieg so konzipiert hat, dass Colleges ihre Aufnahme an Intelligenz orientieren können. Das meritokratische Versprechen: Ein Studium sollte denen offen stehen, welche die richtigen Voraussetzungen mitbringen, nicht Menschen mit reichen oder einflussreichen Eltern. Passiert ist das Gegenteil:
- SAT-Testergebnisse korellieren mit soziökonomischem Status.
- Weil die Testfragen an Studierenden getestet wurden, die damals mehrheitlich weiß und männlich waren, führten sie zu einem starken Bias: Nicht-Weiße und Nicht-Männer wurden durch den Test massiv benachteiligt.
- Obwohl der SAT-Test eigentlich Intelligenz im Sinne einer unveränderbaren Eigenschaft messen sollte, entstand in den USA eine Industrie rund um die Vorbereitung für den SAT-Test: Kinder der oberen Mittelklasse wurden erfolgreich trainiert, um gute Resultate zu erhalten.
Die Kritik an der Meritokratie kam gerade in dem Moment auf, wo die Idee erstens verwendet wurde, um Bildungsressourcen zu vergeben – und wo ein Studium sozioökonomisch einen starken Unterschied machte: Wer in den USA studiert, verdient deutlich mehr als andere Menschen. Gleichzeitig wurde ein Testsystem eingeführt, das problematische aristokratische Prinzipien fortsetzte, aber gleichzeitig vorgab, meritokratisch zu funktionieren. Leemans Buch zeigt eindrücklich, wie Schwarze Kritiker des SAT, wie z.B. Belvin Williams oder Winton Manning, mundtot gemacht wurden, um das System nicht zu gefährden.
Selektive Prüfungen wirken gerecht: Sie sollten diejenigen Menschen bevorzugen, deren Leistungen oder Fähigkeiten den Anforderungen genügen. The Big Test zeigt, dass diese Vorstellung von zwei Problemen nicht zu trennen ist:
(1) Jede Auswahl einer Elite ist undemokratisch, die Vorstellung einer Meritokratie an sich ist problematisch, weil alle Menschen dieselben Rechte verdienen.
(2) Testverfahren selektionieren nicht nach objektiven Kriterien, sondern werden politisch für den Machterhalt einer Elite missbraucht.