Warum und wie ich im Unterricht auf Prüfungen verzichte
Zu Beginn meiner Arbeit als Lehrer waren Prüfungen für mich eine Selbstverständlichkeit. Ich mochte es, sie zu korrigieren und Noten zu setzen. Ich feilte an Skalen, versuchte, möglichst gerechte Formate zu finden. Je länger ich unterrichtet habe, desto mehr habe ich begonnen, an Prüfungen zu zweifeln – so stark, dass ich aktuell keine mehr durchführe. Obwohl ich Schüler*innen weiterhin benoten muss.
Warum führe ich keine Prüfungen mehr durch? Das hat sechs Gründe:
- Prüfungsdruck ist eine konstante Ablenkung für Schüler*innen: Sie können sich selten auf das konzentrieren, was aktuell im Unterricht läuft, weil sie sich auf die nächste Prüfung vorbereiten müssen. Sie rennen in einem Hamsterrad, das ihnen den Blick auf Wichtiges und Relevantes versperrt.
- Prüfungen beenden Lernprozesse. Nach der Prüfung kann alles vergessen werden, es kommt das nächste Thema und die nächste Prüfung. Eine Überarbeitung von Prüfungen ist höchstens ein Alibi – genau so wie Feedback.
- Kompetenz- und Prozessorientierung ist mit Prüfungen nicht möglich.
- BYOD-Arbeitsformen, also die Nutzung von digitalen Geräten im Unterricht, sind in Prüfungssituationen nur künstlich eingeschränkt möglich. Ich will, dass Schüler*innen auch dann, wenn es zählt, so arbeiten können, wie sie im Unterricht arbeiten.
- Permanenter Rollenkonflikt: Ich unterstütze Schüler*innen. Bei Prüfungen muss ich plötzlich aufhören, Fragen zu beantworten, Fehler anstreichen (statt zu zeigen, wie sie sich verbessern lassen) etc. Diesen Rollenkonflikt kann ich nicht ganz auflösen, aber abschwächen.
- Prüfungen verhindern Individualisierung: Sie erzwingen, dass alle in einer beschränkten Zeit dieselben Aufgaben lösen. Einige Schüler*innen brauchen für Lektüre- oder Schreibaufgaben mehr Zeit, arbeiten besser in anderen Umgebungen, mit anderen Hilfsmitteln. Der Fokus auf Lernprodukte ermöglicht das.
Diese Überlegungen führen mich dazu, Schüler*innen grundsätzlich arbeiten zu lassen und ihre Lernprodukte dann zu bewerten (weil ich muss). Ich könnte aber sofort aufhören Noten zu geben und es würde sich wenig ändern (wahrscheinlich würden die Schüler*innen weniger Arbeiten abgeben oder sich etwas weniger Mühe geben).
So entsteht eine bessere, fairere und klarere Leistungskultur: Schüler*innen müssen verbindlich mitarbeiten, aber nicht in starren, psychisch belastenden Strukturen.