Über Leistungen von Schüler*innen nachdenken – ohne Noten

Dieser Text soll in einer kleinen Schweizer Publikation erscheinen – ich veröffentliche hier einen Entwurf und freue mich über Feedback, gerne direkt per Mail: phwampfler@gmail.com

An Gymnasien finden zwei Arten von pädagogischen Gesprächen systematisch statt: Einerseits solche mit und über Schüler*innen mit Problemen (familiären, medizinischen, disziplinarischen) – andererseits solche, die bei ungenügenden Leistungen nötig werden. Dann geht es oft darum, wie und ob Lernende die Bestehensnormen erfüllen können, welche Noten sie »brauchen«, was sie tun können, wenn sie die Anforderungen nicht erfüllen.

Gespräche über die Bedingungen für gute Lernleistungen fehlen. Klassenlehrpersonen geben in den ersten Semestern oft ein paar Hinweise, die aber oft etwas hilflos klingen: Schüler*innen hören zwar immer wieder, dass sie sich Zeit und Stoff gut einteilen sollen. Aber wie sie sich in psychisch turbulenten Teenager- und Pandemie-Zeiten für anspruchsvolles schulisches Lernen motivieren sollen, lässt sich aus solchen Tipps nicht ableiten. Obwohl Gymnasien sich oft darüber definieren, eine Leistungskultur zu pflegen, findet also kaum eine Verständigung darüber statt, wie Lernende welche Leistungen erbringen können. Verhandelt werden prioritär die Fälle, in denen Schüler*innen Leistung nicht erbringen oder erbringen können.

Der Blick auf die Bedingungen guter Lernleistungen ist verstellt: durch Noten. Noten geben vor etwas zu messen, obwohl sie nichts messen. Sie operieren nach der Logik der Testtheorie, die konzipiert wurde, um stabile Persönlichkeitsmerkmale zu vergleichen. Dynamische Wissensbestände oder Kompetenzen bilden Noten lediglich scheingenau ab: Sie wirken genau, sind es aber nicht ansatzweise (Faustregel: jede 4 könnte an einem andern Gymnasium eine 3 oder eine 5 sein, Anmerkung: in der Schweiz bedeutet eine 4 »genügend«, eine 3 »ungenügend« und eine 5 »gut«). Selbst eine wirklich schlechte Note ist einfach ein Signal, das zuvor etwas schiefgelaufen ist.

Noten kommen immer zu spät. Sie werden begrifflich damit aufgewertet, dass sie neben formativem Feedback ein Teil des summativen Feedbacks seien. Nur: Summatives Feedback hilft niemandem. Menschen, die gute Leistungen erbringen wollen, brauchen formatives Feedback, das ihnen Hinweise darauf gibt, wie sie sich im Moment und in der Zukunft verhalten sollten.

Diese Einsichten sind nicht neu, seit den 1970er-Jahren werden sie im schulischen und erziehungswissenschaftlichen Kontext immer wieder ähnlich diskutiert. Gleichwohl sind Noten gesetzlich vorgeschrieben: Auch wenn alle Lehrpersonen von diesen Argumenten überzeugt wären, könnten sie auf Noten nicht verzichten.

(Lehrpersonen lehnen die Einsichten meist aus zwei Gründen ab: Erstens haben sie enorm viel Energie in den Prozess der Notengebung gesteckt, ihre professionelle Entwicklung ist an die Kernkompetenz gebunden, Noten geben zu können. Sie haben differenzierte Verfahren entwickelt, optimiert und enorm viel Arbeitszeit mit Korrekturen und Gesprächen über Noten verbracht. Einzusehen, dass das nicht lernförderlich war und ist, fällt deshalb nicht leicht. Zweitens nutzen Lehrpersonen Noten als Machtmittel: Sie stellen Disziplin mit dem Hinweis darauf her, dass sie Noten geben und Schüler*innen aufpassen müssen, um gute Noten erreichen zu können. Geht das nicht mehr, braucht es neue Verfahren, um funktionierenden Unterricht gestalten zu können.)

Was aber ist möglich, wenn wir annehmen, dass Noten weder genau messen noch dazu beitragen, eine Leistungskultur zu etablieren? Wir sollten an Gymnasien pädagogische Gespräche so konzipieren, dass Noten eine möglichst geringe Rolle darin spielen. Das bedeutet: Lehrpersonen sollten mit Schüler*innen und mit anderen Lehrpersonen über Leistungen ins Gespräch kommen, ohne auf Noten zu verweisen. Sie sollten Formen finden, über Leistungen nachzudenken, die unabhängig von einer Bewertung sind. Dabei spielen dann Fragen nach dem Zeitmanagement, der Motivation, den eigenen Ansprüchen, Erwartungen anderer, zentralen Kompetenzen und auch Verbindlichkeit eine wichtige Rolle. In den Blick rücken auch die unterschiedlichen Arbeitsformen und Lernkulturen im fächerbezogenen Gymnasialunterricht, in denen Lernen unterschiedliche Stärken einbringen können. Können sich Schulen zumindest in pädagogischen Gesprächen von Noten lösen, dann nehmen sie diese Stärken viel deutlicher wahr. Ein Zeugnis mit vielen genügenden, aber nicht guten Noten fällt nicht auf – es versteckt alle Stärken, die dahinterstehen.

Schaffen wir es, weniger über Noten zu sprechen, verbessert sich die Leistungs- und Lernkultur automatisch. Noten frustrieren, sie setzen Zahlenwerte an die Stelle von Rückmeldungen, scheinbar objektive Messungen an die Stelle von menschlichen Reaktionen. Sie fördern Minimalismus und Optimierungen, die sich an Fehlanreizen orientieren. Wer pädagogisch verantwortungsbewusst handelt, stellt sich diesen Nebenwirkungen entgegen.

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