Sagen Noten Erfolg voraus?
Eines der stärksten Argumente für die Verwendung von Noten beim schulischen Lernen ist ihre Voraussagekraft: Noten signalisieren, wer auf dem weiteren Bildungsweg oder im Beruf erfolgreich sein wird. Deshalb haben sie nicht nur eine Bedeutung, sondern auch eine Berechtigung, so das Argument: Sie enthalten Informationen darüber, wie Kinder und Jugendliche ihre Zukunft gestalten sollten.
Dieses Argument möchte ich diese Woche etwas genauer prüfen. Ich beginne mit der Frage, was der Sinn von Erfolgsprognosen sein könnten. Als ich eine Zahnspange brauchte, hat der Kieferorthopäde aus Röntgenbilder meine zukünftige Körpergröße errechnet: 1.86 (ich war an guten Tagen wohl tatsächlich mal 1.85 groß). Die Prognose war zutreffend. Nur: Rückblickend war sie eine reine Spielerei. Keine Entscheidung in meinem Leben hing davon ab. Etwas später schaute ich dann Gattaca: Im Film von Andrew Niccol (1997) werden genetische Daten ausgewertet. Daraus entstehen Prognosen, mit denen Menschen in Klassen und Berufe eingeteilt werden. Lebensumstände, Haltungen und Willensleistungen bleiben dabei auf der Strecke.
Prognosen können also entweder belanglos sein (wie die der zukünftigen Körpergröße) oder einschränkend (wie der möglichen Berufe, die jemand ausüben kann). Oft sind sie auch unnötig: Nur wenige Menschen streben Berufe an, für die sie nicht qualifiziert sind. Andererseits können sie in spezifischen Settings (z.B. bei der Frage, wer Profi-Sportler*in oder Astronaut*in werden soll), wichtige Informationen vermitteln, wenn es darum geht, viele sehr hohe Anforderungen zu erfüllen.
Ist die Schule ein spezifisches Setting, in dem die Informationen aus Prognosen nützlich sind – und nicht belanglos, einschränkend oder unnötig? Das hängt vom Verständnis der Schule ab. Dient sie dazu, jungen Menschen zu vermitteln, dass sie ganz bestimmte Berufe ergreifen oder Bildungsgänge absolvieren können, dann braucht es dazu wohl auch Noten: Wer einem Jugendlichen begreiflich machen will, dass er sich auf eine Ausbildung im Pflegebereich fokussieren sollte, kann das mit entsprechenden Prognosen gut begründen – und so die Hoffnung auf einen anderen Beruf zunichte machen. Wer einer Gymnasiastin nahelegen will, dass sie nicht Medizin studieren soll, kann das ebenfalls mit Noten machen. Ist die Schule aber ein Ort, an dem das Potenzial von Lernenden maximal entfaltet werden soll, sind Prognosen wohl eher hinderlich oder gefährlich. Für meine Vorstellung von Schule braucht es keine Prognosen.
Soviel zum Sinn von Prognosen. Der nächste Punkt ist ihre Aussagekraft. Was genau besagen Prognosen, die sich aus Noten ableiten lassen?
Die prädiktive Validität von durchschnittlichen Schulabschlussnoten liegt mit ρ = .46 (korrigierter Wert für die Reliabilität des Kriteriums) bzw. ρ = .52 (reliabilitäts- und selektionskorrigierter Wert) an der Spitze der Einzelprädiktoren zur Vorhersage des Studienerfolgs.
– Metaanalyse Universität Hohenheim, 2007
[O]n average, grades and achievement tests are generally better predictors of life outcomes than “pure” measures of intelligence. This is because they capture aspects of personality that have been shown to be predictive in their own right.
– Datenanalyse Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit, 2016
Die beiden zitierten Arbeiten sagen stark vereinfacht aus: Wenn man Noten mit zukünftigen Messungen vergleicht (z.B. Noten im Studium, Abschluss des Studiums, Einkommen, Body Mass Index, Lebenszufriedenheit etc.), dann gibt es einen statistisch relevanten Zusammenhang. Das bedeutet, dass eine Person mit guten Noten in der Schule mit einer etwas höheren Wahrscheinlichkeit als andere gute Noten im Studium hat, viel Geld verdient, ein gesundes Körpergewicht hat, mit dem Leben zufrieden ist.
Diese Voraussagekraft ist im Vergleich zu gewissen anderen Daten leicht höher. Das zeigt folgende Darstellung aus der Analyse des Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit (S. 5):
»R-squared« auf der vertikalen Achse zeigt an, wie stark Unterschiede bei Löhnen, Bildung etc. durch Unterschiede bei IQ, Persönlichkeitsmerkmalen etc. statistisch erklärt werden können. Vergleich man die schwarzen Balken (IQ) mit den hellgrauen (Grades), dann sieht man, dass Noten in vielen Bereichen eine stärkere Erklärungs- oder Voraussagekraft haben als IQ-Messungen.
Betrachten wir diese britischen Daten, dann lässt sich sehr vorsichtig sagen: Schüler*innen mit guten Noten werden mit einer kleinen bis mittleren Wahrscheinlichkeit mehr verdienen als andere, mit einer mittleren bis hohen Wahrscheinlichkeit bessere Bildung erhalten als andere und mit kleinen Wahrscheinlichkeiten ein in Bezug auf Körpergewicht, Lebenszufriedenheit und Verhaftungen bessere Werte erzielen als andere.
Wenn das die Aussage der Prognose ist, dann kann man sich wohl auf Bildung beschränken: Die Erklärungskraft von Noten ist in allen anderen Bereichen so klein, dass es wohl außerhalb von sozialwissenschaftlicher Forschung keine sinnvolle Anwendung für die Ergebnisse gibt.
Deshalb können wir als letzten Punkt die Frage stellen, wie genau aus Noten abgeleitete Prognosen in Bezug auf Bildung sind. Ist es z.B. vernünftig, die Zulassung für Studiengänge von Noten abhängig zu machen (weil gute Noten voraussagen, dass jemand ein Studium erfolgreich absolvieren kann)? In einem Studienbuch zur Pädagogischen Psychologie (6. Auflage 2021) heißt es dazu:
Studienleistungen (in Form von Noten) werden gut durch Studierfähigkeitstests und Schulnoten vorhergesagt, die Studiendauer dagegen eher durch psychosoziale Faktoren wie die Zufriedenheit mit der Institution und akademische Fertigkeiten (Kommunikationsfähigkeit, Zeitmanagement etc.).
Die dazu abgebildeten Daten zeigen, dass Schulnoten im Vergleich mit anderen Voraussageverfahren in der Regel besser funktionieren (in der Regel sind Durchschnittsnoten Einzelnoten dabei überlegen):
Daten aus der Metaanalyse der Universität Hohenheim zeigen jedoch z.B. für das Medizinstudium, dass diese Voraussagekraft abnimmt: Ein Rho-Wert von 0.5 (das ist die korrigierte Korrelation) für das Bachelor-Studium verringert sich fürs Hauptstudium auf 0.32 und für den klinischen Abschnitt auf 0.29. Das bedeutet: Noten aus den zwei letzten Jahren des Gymnasiums sagen Noten im Bachelor-Studium recht gut voraus (und besser als alle anderen erprobten Verfahren). Für den Erfolg in späteren Phasen des Studiums sind sie jedoch keine besonders starken Voraussagewerte.
Fazit
Wenn Voraussagen nötig sind (weil z.B. die Politik nicht genügend Ressourcen für Bildung zur Verfügung stellt), sind Noten vergleichsweise stark in ihrer Voraussagekraft. Kombiniert mit anderen Daten (IQ-Werten, Persönlichkeitsmerkmalen) können diese Werte verbessert werden – für sich alleine ist die Aussagekraft von Fachnoten beschränkt. Diese Aussagekraft nimmt zudem für spätere Phasen des Studiums ab.
Mit Dank an Steffen Siegert für seinen Blogpost mit wertvollen Links.