Mit welchen Tricks Lehrpersonen vertuschen, dass Prüfungen nicht objektiv sind

Eine Prüfung ist objektiv, wenn unterschiedliche Prüfer*innen zum selben Ergebnis kommen, wenn sie die Ergebnisse beurteilen. Nimmt man lediglich Prüfungsaufgaben und Ergebnisse von Schüler*innen, dann kommen Prüfer*innen zu krass unterschiedlichen Ergebnissen. Nehmen wir eine Mathematik-Aufgabe:

Wie viele Quadratzahlen gibt es, die kleiner sind als 106?

Betrachten wir folgende Antworten:

  • 103 - 1
  • 103
  • √1'000'000
  • »106 ist eine Million, das ist das Quadrat von Tausend. Ich denke, es gibt weniger als Tausend.« 

Welche Antwort gibt wie viele Punkte? Sobald wir das diskutieren, merken wir, dass wir klären müssen, ob 0 eine Quadratzahl ist. Und wir müssen klären, ob Wurzeln stehen gelassen werden dürfen und ob Antworten in natürlicher Sprache formuliert sein dürfen, ob sie vage sein dürfen.

Alle Antworten weisen gewisse Qualitäten auf, sie zeugen von Kompetenzen. Könnten Prüfungen diese Kompetenzen messen, dann wäre klar, wie sie einzuschätzen sind. Da Prüfungen bzw. Prüfungsaufgaben Kompetenzen nicht messen, würden Mathematiklehrpersonen zu sehr unterschiedlichen Punktzahlen für diese Lösungen kommen. Einige würden einzelnen Lösungen 0 Punkte geben, andere würden allen die volle Punktzahl geben. Einige würden bestimmte Teilpunkte vergeben, andere andere.

Das ist bei allen Aufgaben so. Sobald eine andere Lehrperson korrigiert, kommt sie zu einer anderen Einschätzung. Nun könnte man das als Beleg auffassen, dass Prüfungsaufgaben nicht objektiv sind. Wenn man ehrlich wäre, müsste man das als Beleg dafür auffassen.

In den Erziehungswissenschaften passiert aber was anderes, was der Thread des Erziehungswissenschaftlers Kris Besa (unten) zeigt. Die fehlende Objektivität wird mit Tricks kaschiert. Die Tricks funktionieren so:

  1. Willkürliche Vorgaben bei der Prüfung schränken die Antwortmöglichkeiten ein. Zum Beispiel wird vorausgesetzt, dass Schüler*innen eine bestimmte Definition von Quadratzahl anwenden, die sie im Unterricht gelernt haben (egal, wie problematisch diese Definition sein mag). Oder es wird klar gemacht, dass Ergebnisse Zahlen sein müssen, die doppelt unterstrichen werden etc.
  2. Die Aufgabe wird in Teilschritte zerlegt, für die Teilpunkte vergeben werden. Diese Aufteilung oder Zerlegung ist willkürlich, sie orientiert sich nicht an tatsächlichen Kompetenzen, sondern modelliert Kompetenzen willkürlich und belohnt dann bestimmte Fertigkeiten, andere aber nicht. (Es wäre auch eine Kompetenz, bei einer solchen Aufgabe zu beschreiben, weshalb man nicht auf die Lösung kommt.)
  3. Mit Erwartungshorizonten oder Musterlösungen wird vorgegeben, wie Punkte verteilt werden dürfen.
  4. Die Antworten aller Schüler*innen werden verglichen, danach entscheidet eine Lehrperson, welche Lösungen zu wie vielen Punkten führen (sie belohnt dann z.B. Überlegungen, die nur eine Schülerin gemacht hat, nicht – vergibt aber Punkte für fehlerhafte Ansätze, die viele Schüler*innen gewählt haben).

Argumentativ kann dann gesagt werden, Prüfungen seien nur dann objektiv (oder könnten nur dann messen), wenn sie diese Vorgaben machen, an eine soziale Gruppe angepasst werden und mit Erwartungshorizonten verstehen werden. Damit wird aber kaschiert, dass sie halt weder objektiv sind noch messen, sondern dass man einfach diesen Eindruck vermeiden will.

Um ein Bild zu verwenden: Das wäre, als würde man einen Maßstab nehmen und ihn verwenden, um eine Strecke abzumessen. Manchmal ist die gemessene Strecke 12cm lang, manchmal ist sie 9cm, manchmal 10cm. Danach würde man sagen: Wir nehmen nur die Ergebnisse, die gleich sind (Erwartungshorizont). Das ist die richtige Messung. Dann scheint der Maßstab genau zu sein, obwohl er es nicht ist.

(Historisch waren Prüfungen und Noten nicht als objektive Messung konzipiert, bevor diese positivistischen Vorstellungen im 19. Jahrhundert an Bedeutung gewonnen haben. Man hat also eine bestehende Praxis genommen und so getan, als handle es sich um eine Messung, obwohl das nie so gedacht war.)

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