Die Funktionen von Noten – und warum Noten sie nicht erfüllen

Wozu gibt es eigentlich Noten? Die Fachliteratur beantwortet diese Frage über Funktionen, die Noten zugewiesen werden. Historisch gesehen sind diese Funktionen nicht als Begründungen zu verstehen, die dazu geführt hätten, Noten zu verwenden – Noten und Prüfungen haben eine lange Geschichte. Viele Funktionen sind erst in einem veränderten Bildungssystem überhaupt relevant geworden. Das ist eine Erklärung dafür, weshalb Noten die Funktionen, die ihnen zugeschrieben würden, entweder nur schlecht oder gar nicht erfüllen: Noten wurden nicht dafür gemacht, diese Funktionen zu haben – man legitimiert sie bis heute mit diesen Funktionen.

Sacher listet in »Leistungen entwickeln, überprüfen und beurteilen« (3. Auflage, 2001) folgende Funktionen auf (S. 8ff.):

  1. Sozialisation
  2. Selektion
  3. Legitimation
  4. Kontrolle
  5. Prognose
  6. Information und Rückmeldung
  7. Disziplinierung
  8. Lehr- und Lerndiagnose
  9. Lern- und Leistungserziehung (Motivation)

Er schreibt dazu (S. 17):

Ziffernnoten erfüllen die meisten Funktionen der Leistungsbeurteilung äußerst unzureichend, im Grunde eigentlich nur scheinbar. Ganz offensichtlich beruht die Selektion nach den Ziffernnoten auf einem objektiven Schein, man kann härter sagen: auf einer kollektiven Täuschung aller Beteiligten. Die Lehrer tun so, als ob sie etwas Wesentliches über einen Schüler aussagen, wenn sie seinen Leistungen Noten zuordnen, und die Adressaten der Zeugnisse meinen, daß sie etwas Wichtiges über ihn und seine Leistung wissen, wenn sie diese Noten kennen. Statt sich Notenzeugnisse anzusehen, sollten aufnehmende Bildungseinrichtungen und Arbeitgeber sich besser näher mit der Person des Bewerbers und mit seinen Fähigkeiten befassen. D.h. sie sollten selbst überprüfen, ob er ihren Erwartungen entspricht und die Selektion konkreter und individueller, fast möchte ich sagen: "persönlicher" gestalten. Noten begünstigen nur die weit vorangetriebene Bürokratisierung und Automatisierung von Selektionsentscheidungen.

Sachers Fazit ist, dass Noten und Prüfungen primär dazu genutzt werden sollen, um Diagnose im Unterricht zu leisten und Schüler*innen hin zu einem Verständnis von Leistung als Selbstverwirklichung zu erziehen.

Die Frage ist, ob und wie das funktionieren könnte. Die Antwort darauf hängt auch mit den Vergleichen zusammen, die man zieht. Die Forschung zeigt etwa, dass Noten im Vergleich zu keinen Rückmeldungen zwar leistungsfördernd wirken, aber demotivieren. Vergleicht man Noten mit Feedback, dann wird deutlich, dass Feedback sowohl Leistungen verbessert als auch die Motivation steigert (Koenka et al. 2021). Geht man also davon aus, dass ohne Noten keine Art von Rückmeldung erfolgt, dann erfüllen Noten die Funktion der Leistungserziehung. Vergleicht man sie mit Feedback, dann erfüllen sie diese Funktion aber weniger gut als die Alternative.

Dieses Muster zeigt sich bei allen Funktionen: Noten sind nie der beste Weg, um eine der Funktionen zu erfüllen. Wie Sacher schreibt, erfüllen sie die Funktionen oft nur scheinbar. Gleichwohl werden aber Noten weiterhin so wahrgenommen, als ob sie diese Funktionen erfüllen könnten.

Typisch dafür ist die Argumentation von Oliver Dickhäuser. Er ist Professor für Pädagogische Psychologie an der Universität Mannheim und verweist als Legitimation für Noten oft darauf, dass sie die Prognose-Funktion gut wahrnehmen könnten. In einem Blogbeitrag schreibt er:

Die Ziffern im Zeugnis ermöglichen es, den späteren Erfolg im Studium (gemessen über Noten) und im Beruf (beispielsweise gemessen über Beurteilungen von Vorgesetzten) in Teilen vorherzusagen. Die Befunde unterstreichen aber auch: Erfolg in Studium und Beruf hängt von vielen Faktoren ab – nicht allein von den Leistungen in der Schule. Es ist somit nicht verwunderlich, dass manche Studierende sehr gute Leistungen erbringen, die zuvor in der Schule weniger gut dastanden. Nun sind Studienplätze, zumindest in manchen Fächern, eine begrenzte Ressource. Es braucht ein Auswahlverfahren. Dabei ist es, das wurde oben gezeigt, empirisch gerechtfertigt, den Zugang an Unis und Hochschulen von den Leistungen im Abitur abhängig zu machen. Noten sind geeigneter als andere Kriterien, deren prognostische Aussagekraft geringer oder unbekannt ist.

Was an der Passage auffällt, ist die Verbindung von Selektion mit Prognose. Dickhäuser befürwortet eine Selektion über Noten, weil erstens »Studienplätze eine begrenzte Ressource« seien und weil Noten zweitens späteren Erfolg »in Teilen vorherzusagen« vermögen. Sacher weist darauf hin (S. 9f.), dass Prognosen in frühen Schuljahren stark fehleranfällig sind und damit verbundene Selektion sehr problematisch ist. Dickhäuser bezieht sich auf die Selektion nach dem Abitur – tatsächlich wird dieselbe Logik beispielsweise auch für die Selektion an Gymnasien eingesetzt, obwohl die Prognosefunktion dort deutlich schlechter ausgeprägt vorliegt. Sacher weist darauf hin, dass Notenselektion unterschiedliche gesellschaftliche Schichten unterschiedlich hart treffen. Er kommentiert weiter:

Gerade bei jungen Menschen ist es völlig absurd anzunehmen, daß sich ihre Leistungsfähigkeit nicht noch infolge von Entwicklungsschüben und Umwelteinflüssen grundlegend ändern könnte. Es bedürfte eines Systems fairer Möglichkeiten, im zweiten und dritten Anlauf eine Revision einmal getroffener Selektionsentscheidungen zu bewirken. (S. 10).

Kommen wir auf die Argumentation von Dickhäuser zurück, dann sind Noten und ihre Prognosefunktion für ihn das am wenigsten schlechte Kriterium für Selektion. Michael Sandel hat in seiner Kritik der Idee der Meritokratie diese Vorstellung zurückgewiesen. Dickhäuser fordert, die limitierten Studienplätze sollten denjeingen Studierenden zugeteilt werden, welche wahrscheinlich die besten Erfolgchancen aufweisen. Da das aber nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden kann, wäre es, so Sandel, fairer zu losen:

But the most compelling reasons for a lottery of the qualified is to combat the tyranny of merit. Setting a threshold of qualification and letting chance decide the rest would restore some sanity to the high school years, and relieve, at least to some extent, the soul-killing, résumé-stuffing, perfection-seeking experience they have become. It would also deflate meritocratic hubris, by making clear what is true in any case, that those who land on top do not make it on their own but owe their good fortune to family circumstance and native gifts that are morally akin to the luck of the draw.

Es lohnt sich, zur Funktion von Noten das Buch von Sacher zu lesen. Sacher zeigt deutlich, dass die Funktionen von einem Konzept einer Leistungsgesellschaft abhängen, das problematisch ist und Bildungsaufgaben der Schule erschweren. Verfechter*innen von (schlechten) Noten argumentieren deshalb nicht selten damit, dass das (Berufs-)Leben ja ebenfalls Niederlagen bereithalte, dass Schüler*innen früh lernen müssten, damit umzugehen. Sie sehen es als sinnvoll an, Menschen zu belohnen und zu bestrafen – und dabei so zu tun, als sei Leistung dafür ausschlaggebend.

Die Funktionen, die Noten zugeschrieben werden, sind Ausdruck dieser Ideologie. Wissenschaftlich und empirisch erfüllen Noten alle Funktionen unzureichend – auch die Prognosefunktion. Da es aber darum geht, Leistungsdenken an Schulen zu etablieren, sind Noten ein Instrument, Menschen daran zu gewöhnen, dass sie willkürlich belohnt und bestraft werden – und dabei so getan wird, als würde das von ihren Leistungen abhängen.

Die wahre Funktion von Noten ist also die Gewöhnung an die Ungerechtigkeiten der Leistungsgesellschaft.

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