Die toxische Rangordnung: Warum Noten Über- und Unterlegenheit erzeugen

In einem Podcast erzählt Maria Bamford, wie sie als Patientin in einer Klinik für Essstörungen von anderen Patientinnen bewertet und beurteilt wurde: Es gebe, so ihre Beobachtung, Hierarchien, wer eine gravierende und belastendere Essstörung habe. Das mag leicht übertrieben sein, zeigt aber, dass Menschen alles benutzen können, um anderen Über- und Unterlegenheit vorzuführen, um eine Hackordnung zu etablieren.

Das ist toxisch: Wir schreiben uns einen Wert zu, indem wir uns über andere erheben. Wir sprechen uns einen Wert ab, indem wir andere als überlegen wahrnehmen. Das kann man auf Gesundheit, auf Aussehen, auf Einkommen, auf Familie oder auf den Beruf beziehen: Sobald eine Bewertung stattfindet, erzeugt sie Scham und negative Gefühle. Deshalb ist toxisch der richtige Begriff dafür, die Bewertungen vergiften etwas, was nicht giftig sein sollte. Ob jemand viele Kinder, ein Kind, keine Kinder hat – alle Personen leben ein Leben, das eine Geschichte und eine Bedeutung hat. Hier eine Wertung einzuführen, ist nur problematisch, es ergibt keinen Sinn. Genauso ist es mit Berufen: Was auch immer eine Person tut, bedeutet für sie und andere etwas. Einige Berufe über andere zu stellen, das schadet nur.

Damit sind wir bei den Noten: Kinder lernen, dass und wie sie sich über andere stellen können (oder wie und dass sie sich anderen unterordnen müssen). Leider lernen sie das auch über Schulnoten. Kinder lernen in der Schule. Sie strengen sich an, machen Fehler, sind manchmal eifrig dabei und manchmal gelangweilt oder wenig motiviert. Wenn nun mit Prüfungen und Noten eine Bewertung darüber gelegt wird, die einen Vergleich erlaubt, entsteht sofort die Frage, wer in Mathe »gut« ist und wer »schlecht« ist. Mathe kann plötzlich zu einem Wert werden, der einer Person und ihrer Arbeit zugeordnet ist. Einige sind »besser« als andere. Was passiert, sobald eine Klasse Note erhält, ist verheerend: Sie werden nicht auf Prüfungsleistungen bezogen, sondern auf die ganze Person. »Du bist schlecht in Mathe« beginnt mit »Du bist schlecht.« Noten verunmöglichen, dass alle gut sein können. Die Aufwertung der einen wird mit der Abwertung anderer verkauft.

Auch wenn es eine faire und sinnvolle Form gäbe, Mathe-Leistungen zu vergleichen (was nicht der Fall ist), wäre es problematisch, diese Bewertungen so einzuführen. Viele Menschen rechtfertigen sie damit, dass Kinder sich mit anderen vergleichen wollen. Das tun sie, weil sie gelernt haben, daraus einen Wert abzuleiten. Könnten wir unabhängig von Beurteilungen sicher sein, dass unsere Anstrengungen etwas bedeuten, bräuchten wir nicht die Sicherheit, etwas besser als andere zu können.

Aus der toxischen Rangordnung entsteht der Teufelskreis der Meritokratie: Wer auf der Rangliste weiter oben steht, muss Privilegien erhalten. Damit diese Privilegien verteilt werden können, braucht es eine Rangliste. Verkürzt heißt das dann: »Leistung muss sich lohnen«. Nein, muss sie nicht. Schulische Selektion braucht es nämlich in dieser Argumentation, damit sich Leistung lohnt. Und Leistung lohnt sich, weil es schulische Selektion gibt. Das gilt auch auf den Verweis auf andere ungerechte Formen von Meritokratie: Auch ungleiche Löhne oder Lebensverhältnisse sind nicht verdient, sondern entstehen aus einem System, das Menschen bewertet und einander über- oder unterordnet.

Menschen strengen sich an, wenn sie dafür gute Bedingungen vorfinden. Es braucht keine künstlichen Formen von Beurteilung, keine Abwertung von anderen. Es gibt keine Form von Bewertung, welche nicht eine Rangordnung erzeugt und so instrumentalisiert wird, um Menschen abzuwerten. Deshalb hat Bewertung in einer Schule nichts verloren. Sie ist toxisch. Feedback ist das nicht – es bezieht sich auf Menschen und schafft keine künstlichen Ordnungen und Machtverhältnisse.

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