Kann es ohne Prüfungen kompetente Ärztinnen und Piloten geben?

Wenn ich in Gesprächen die Notwendigkeit von Noten und Prüfungen anzweifle, kommt immer wieder das folgende Argument auf:

Wollen wir, dass in der Medizin oder im Luftverkehr Menschen Verantwortung übernehmen, ohne geprüft worden zu sein? Willst du von einer Ärztin behandelt werden, die kein Examen ablegen musste? Bist du bereit in ein Flugzeug zu steigen, wenn der Pilot nicht nachweisen musste, dass er den Flugzeugtyp und die Verkehrsregeln kennt?

Das Argument lässt sich wie folgt unterteilen:

  1. Fachpersonen mit viel Verantwortung für das Leben anderer Menschen brauchen hohe Kompetenzen.
  2. Diese Fachpersonen werden in den heutigen Ausbildungen hart geprüft.
  3. Ohne diese Prüfungen kann nicht sichergestellt werden, ob sie über diese Kompetenzen verfügen.
  4. Weil in diesen Fällen Prüfungen durchgeführt werden, sind Prüfungen auch in der Schule ein sinnvolles Verfahren, um Kompetenzen zu sichern.

Widersprechen würde ich hier allen Punkten außer dem ersten. Deshalb beginne ich die Diskussion von hinten.

Übertragung von Qualifizierungsverfahren

Schule und Studium sind keine Verfahren, um spezialisierte Fachpersonen zu qualifizieren. Berufsausbildung ist mit konkreten Arbeitssituationen verbunden, die in Prüfungen abgebildet werden. Das ist im schulischen Unterricht nicht der Fall, Prüfungen haben ganz andere Funktionen. Viele der Probleme mit Prüfungen (ihre Ungenauigkeit, ihre Verzerrungen, ihre demotivierende Wirkung) verschwinden, wenn ein konkreter Kontext vorhanden ist. Die Übertragung der Verfahren, mit denen Pilot*innen und Ärzt*innen geprüft werden, funktioniert deshalb nicht.

Kompetenzen werden nachgewiesen, nicht geprüft

In Diskussionen zu diesen Zusammenhängen kommt man oft an einen Punkt, wo unklar ist, was eine Prüfung ist. Pilot*innen dürfen Flugzeuge steuern, weil sie gezeigt haben, dass sie das können: In der Ausbildung fliegen sie zusammen mit Fachpersonen und zeigen ihnen, dass sie können, was sie im Beruf können müssen. Ärzt*innen führen Operationen und Behandlungen durch, um zu demonstrieren, dass sie kompetent sind. Nun kann man sagen, dass das auch Prüfungen seien. Nur verwischt das den Prüfungsbegriff. Sinnvoller wäre, von Kompetenznachweisen zu sprechen (und zwar nicht im Sinne von Dokumenten): Kompetente Personen können anderen kompetenten Personen in der Praxis nachweisen, dass sie kompetent sind.

Natürlich werden Fachpersonen in Medizin und Luftverkehr auch schriftlich geprüft – doch das ist nicht der Kern ihrer Beurteilung. Wer Bestnoten bei diesen Examen erhält, aber in der Praxis aus Nervosität Fehler macht, ist nicht kompetent. Wer in der Theorie gerade so durchkommt, praktische Probleme aber souverän reflektiert und daraus lernt, ist eine hervorragende Fachperson.

Nur wenn mit »Prüfungen« praktische Übungen und Kompetenznachweise gemeint sind, können die Teile 2. und 3. des Arguments gehalten werden. Wir vertrauen Fachpersonen deshalb, weil andere Fachpersonen ihre Kompetenz eingeschätzt haben. Nicht, weil sie in theoretischen Prüfungen gute Ergebnisse erzielt haben. Wenn eine mit mir befreundete Pilotin sagen würde: »Mit G. würde ich nicht mitfliegen, der hat zwar in der Ausbildung immer Bestnoten erhalten, kann sich aber während der Flüge nicht richtig konzentrieren und hört die Hälfte der Funksprüche nicht richtig«, würde ich bei G. nicht mitfliegen. Sagt ein mit mir befreundeter Arzt: »B. hatte nie wirklich gute Noten und hat einige Prüfungen wirklich verhauen, aber sie ist so empathisch und besucht so viele Weiterbildungen, die kann dir bei deinen Hautproblemen sicher eine wirksame Behandlung empfehlen«, dann würde ich bei B. einen Termin vereinbaren.

Prüfungen sind Abkürzungen

Wenn wir sicher sein müssen, dass Personen bestimmte Kompetenzen haben, müssen wir uns diese von ihnen nachweisen lassen. Sie müssen zeigen können, was sie können. In der Praxis ist das aufwändig – deshalb werden Prüfungen eingesetzt, um viele Kompetenzen gleichzeitig ungenau zu messen. Das Ergebnis ist dann oft nicht brauchbar, aber es spart Zeit. Prüfungen sind wie Noten scheingenau: Sie wirken so, als könnten sie Kompetenzen nachweisen, leisten das aber nur in sehr spezifischen Fällen. Je genauer Prüfungen sind, desto näher sind sie an einer spezifischen Praxis: Die Praxis selbst ist der beste Kontext für das Assessment einer Kompetenz. (Mit Praxis ist hier nicht das Gegenteil von »Theorie« gemeint, sondern konkrete Handlungssituationen, in denen durchaus auch abstrakte, theoretische Reflexionen nötig sind.) Sobald Prüfungen durchgeführt werden (müssen), bedeutet das, dass eine Distanz zu einem Kompetenznachweis vorhanden ist.

Muss eine Pilotin in einer Prüfung nachweisen, dass sie die Schalter und Flugeigenschaften eines Flugzeugtyps kennt, dann kann die Prüfung zeigen, dass sie sich Zusammenhänge merken und sie in der Prüfungssituation anwenden kann. Ob sie im Berufsalltag Merkhilfen verwendet, vor Arbeitsbeginn einige wichtige Punkte im Handbuch nachschlägt oder mit dem Co-Piloten ein Gespräch führt, in dem sie wesentliche Aspekte wiederholt, wird dabei ausgeblendet. Genauso kann ein Arzt sich bei schwierigen Fällen wirksam in Fachportalen informieren oder mit Kolleg*innen austauschen, was in einer Prüfungssituation nicht geht.

So finden sich in allen Berufsfeldern hochkompetente Personen mit mäßigen Ergebnissen bei ausbildungsbezogenen Prüfungen – und Menschen mit mangelhaften Kompetenzen, die sehr gute Prüfungen abgelegt haben. Die Vorstellung, dass nur Prüfungen Kompetenzen nachweisen können, ist verbreitet, aber falsch. Prüfungen sind im besten Fall Annäherungen an sinnvolle Kompetenznachweise, oft aber nicht einmal das – sondern ungenau und praxisfern.

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