Prüfungen bereiten nicht auf das Leben vor

Wie letzte Woche gehe ich noch mal auf ein Argument ein, mit dem eine problematische Prüfungskultur oft rechtfertigt wird.

Das Argument besagt, dass Prüfungen Kindern und Jugendlichen helfen, sich auf das vorzubereiten, was später auf sie zukommt: Stressige Lebenssituationen, in denen sie bewertet werden. Diese funktionieren, so die Behauptung, ähnlich wie Prüfungen. Und zwar so ähnlich, dass die Bewältigung der Prüfungskultur ihnen dabei hilft, solche Druckphasen zu meistern.

Wie viele dieser Argumente hängt hier vieles davon ab, was wir unter einer Prüfung verstehen. Für mich sind die Kernelemente:

  1. Eine Sammlung von Aufgaben,
  2. deren Lösung zu einer Bewertung führt,
  3. die Grundlage für einen Vergleich mit anderen Menschen darstellt
  4. und mit Konsequenzen für die lösende Person verbunden ist.

Wenn man daran festhält, dann ist z.B. eine Präsentation vor kritischen Mitarbeitenden keine Prüfung, weil diese zwar Urteile fällen und negativ reagieren können, aber keine Bewertung vornehmen.

Es bleiben zwei Fragen:

  • Gibt es im Leben wirklich Prüfungen?
  • Bereiten schulische Prüfungen auf stressige Lebenssituationen vor?

Ich denke, was Menschen im Leben bewältigen müssen, lässt sich in vielen Fällen als stressige Situation bezeichnen. Prüfungen im engeren Sinne gibt es auch, aber sie sind eher selten und meist ohne sozialen Vergleich: Qualifizierungen wie die Führerschein-Prüfung führen nicht zu einem Score, mit dem Menschen verglichen werden, sondern es dürfen alle ein Auto steuern, die bestimmte Kompetenzen nachweisen können. Genauso ist es in vielen Weiterbildungen, die als Abschluss sowas wie eine Prüfung abhalten, die aber anders funktioniert als schulische Prüfungen: Sie sind ein Ritual, mit dem der Weiterbildung eine Bedeutung gegeben wird. Sie führen weder zu einem Vergleich noch zu Ausschlüssen.

Bewertungen von Mitarbeitenden sind sicher Prüfungen, besonders dann, wenn sie lohnwirksam sind. Ihre Auswirkungen auf Performance und auf die Zufriedenheit von Mitarbeitenden sind in der Forschung zumindest umstritten – man kann sich also fragen, ob diese Art von Prüfungen sinnvoll sind.

Auch Bewerbungsverfahren können den Charakter von Prüfungen haben, wenn mehrere Kandidat*innen verglichen werden und nur jemand (oder wenige) begehrte Arbeitsstellen erhalten.

Wir können also sagen: Im Leben gibt es überschaubar viele Momente, die wirklich Prüfungscharakter haben; aber viele Drucksituationen.

Bereiten schulische Prüfungen Menschen darauf vor? Ich habe noch nie jemanden gehört, der oder die vor einem Bewerbungsgespräch fand, dass das alles kein Problem sei, weil die Schulerfahrung ja gezeigt hat, dass Prüfungen machbar seien. Stressig an Prüfungen ist die Bewertung, der Vergleich, die externe Feststellung einer Leistung (oder eines Defizits). Daran ändert Erfahrung nichts.

Wie Lars Mecklenburg kürzlich angemerkt hat, ist das Vorbereitungsargument im Kern adultistisch: Es geht davon aus, dass Kinder Verfahren unterzogen werden sollen, die für Erwachsene entwickelt worden sind. Bei Prüfungen wird alles, was sonst in der pädagogischen Arbeit relevant ist (Individualisierung, Vermeidung von Stress etc.) über Bord geworfen. Das geschieht implizit und explizit oft mit der Vorstellung, dass so eine Art Härte antrainiert wird, die im späteren Leben hilfreich sein wird. So entsteht aber keine Resilienz. Resiliente Menschen haben Strategien, um mit Belastungen umzugehen, die sie nicht einfach deshalb entwickelt haben, weil sie diesen Belastungen ausgesetzt wurden.

Deshalb das Fazit: Prüfungen bereiten nicht auf schwierige Lebenssituationen vor. Sie sind ein künstliches Verfahren, das nicht damit rechtfertigt werden kann, dass es auch andere künstliche Verfahren gibt. Wer nicht will, dass ein Kind ertrinkt, wirft es nicht unvorbereitet in einen kalten Fluss, sondern bringt es in einen Schwimmkurs.

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