Ein Gedankenexperiment

Kürzlich ist mir ein Neben- oder Haupteffekt der Prüfungskultur und damit verbundenen Mythen über individuelle Leistung bewusst geworden. Er lässt sich am besten mit einem Gedankenexperiment verdeutlichen:

Stellen wir uns vor, an Schulen würden weiterhin Leistungen von Schüler*innen bewertet und benotet. Die Funktion dieser Noten wäre unverändert. Nur zwei Dinge würden sich im Vergleich mit dem Status Quo ändern: Lehrpersonen dürften nur die Arbeit von Lernenden beurteilen, die in der Schule stattfindet. Sie dürften weder Hausaufgaben einfordern noch Prüfungen durchführen, auf die sich Schüler*innen zuhause vorbereiten müssen oder können.

Was würde sich ändern? Der Einfluss der Lernumgebung im Privathaushalt der Schüler*innen würde reduziert. Ob Kinder ein eigenes Zimmer haben, in dem sie ungestört lernen und Hausaufgaben erledigen können, spielte eine geringere Rolle. Ob sie Eltern haben, die sie systematisch auf Prüfungen vorbereiten können und mit ihnen Schulaufgaben bearbeiten können, würde sich weniger stark auf ihre Leistung auswirken.

Was zeigt das? Prüfungen beziehen soziale Lebensbedingungen in die Beurteilung mit ein. Sie messen nicht ausschließlich, was ein Kind kann – sondern auch, ob es in einem Umfeld lebt, das ihm helfen kann, sein Können in spezifischen Prüfungssituationen zu zeigen.

Eine Schule, die mit Lernenden an Aufgaben und Problemen arbeitet und Bewertungen darauf abstellt, wäre wohl eine fairere Schule. Klar, das Urteil von Lehrkräften wäre dann immer noch nicht objektiv, die vielen Funktionen von Noten noch immer nicht widerspruchsfrei und sinnvoll – und die Auswirkungen des Elternhauses nicht eliminiert. Aber zumindest ein Stück weit reduziert.

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