Warum Noten frustrieren und nicht funktionieren
Wie viele Lehrpersonen musste ich in den letzten Tagen Zeugnisnoten für meine Klassen erstellen. Ich arbeite mit Kompetenzrastern und setze deshalb nur diese eine Note. Gleichwohl zeigt sich in diesen Momenten immer besonders deutlich, wo die Probleme von Noten liegen.
Vereinfacht würde ich sagen, dass Noten vier Funktionen haben, die sich oft widersprechen oder gegenseitig aushebeln:
- Sie sollten ein Ausdruck einer Leistung oder von vorhandenen Kompetenzen darstellen.
Anders als viele Menschen denken, messen Noten nichts. Sie sind eine Simulation einer Messung, in dem Sinne, als dass es nichts gibt, was Noten direkt ausdrücken.
Indirekt versuchen Lehrkräfte und Prüfungsverantwortliche natürlich Noten so zu vergeben, dass mehr Kompetenzen oder bessere Leistungen zu besseren Noten führen. Das gelingt nicht immer. Die Schülerin, der von älteren Geschwistern Prüfungsaufgaben aus den Vorjahren kennt und die Lösungen auswendig gelernt hat, erzielt oft bessere Ergebnisse als seine Banknachbarin, die sich anstrengt und die Aufgaben ohne Hilfe besser lösen kann. Dasselbe gilt für den Schüler, der in Prüfungssituationen über sich hinauswächst, während seine Nachbarin nervös wird und in ihrer Unsicherheit viele Fehler macht. - Noten erzwingen einen Vergleich.
Noten bestehen auch deshalb aus Zahlenwerten oder geordneten Buchstaben, damit Schüler:innen sich vergleichen. Das ist kein Bug, sondern ein Feature. Noten sollen eine Rangordnung herstellen, die dann Allokation und Selektion ermöglicht. Noten mit Prüfungen haben die Probe abgelöst, mit denen Lernende bestimmte Qualifikationen nachgewiesen haben. Historisch geht es dabei klar darum, eine soziale Struktur zu erzwingen. Würde man das nicht wollen, könnte man zur Probe zurückkehren, z.B. mit dem Modell der Seepferdchen-Prüfung. - Noten sind eine Währung.
Schüler:innen brauchen Noten. Einerseits um zu bestehen, um versetzt zu werden oder bestimmte weitere Ausbildungsgänge absolvieren zu können – andererseits psycho-sozial, sie haben sich daran gewöhnt, über Noten Wertschätzung und Anerkennung zu erhalten. - Noten simulieren einen biologischen Messvorgang.
Natürliche Gegebenheiten sind normalverteilt. Lehrpersonen lernen, Noten so zu setzen, dass sie dieser Verteilung mehr oder weniger entsprechen. Sie geben wenige sehr gute Noten, viele mittelmäßige und wenige schlechte.
Wenn wir das nun alles zusammendenken, dann entstehen viele Reibungen und Widersprüche zwischen den einzelnen Funktionen. Ein paar Beispiele:
- Wenn ich als Lehrer gezwungen bin, Noten einer Normalverteilung entsprechend zu verteilen, dann kann ich damit nicht besonders gut Leistungen messen, sondern ich normiere sie.
- Wenn Schüler:innen in Vergleiche gezwungen werden, aus denen sie aber auch gleichzeitig ihre Anerkennung ableiten müssen, dann ist das eine sehr frustrierende Erfahrung, welche die Entwicklung von Selbstvertrauen und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit erschwert.
- Wenn Schüler:innen Noten für die Bestimmung ihres Selbstwerts brauchen, die guten Noten aber künstlich limitiert werden, dann tut ihnen das nicht gut.
- Wenn Noten Leistungen messen sollten, gleichzeitig aber durch soziale und normierende Faktoren verzerrt werden, dann zwingt das Lehrpersonen zu unbefriedigenden Praktiken. Sie müssen dann oft schlechtere Noten setzen, als sie sollten (oder setzen bessere, als es gerechtfertigt ist).
Lösungen gibt es hier nicht. Noten lassen sich von diesen Funktionen kaum entkoppeln (oder nur, wenn viele Änderungen parallel ablaufen). Denkbar wäre, Allokation und Selektion ohne Noten zu gestalten, wie das bei vielen Unternehmen aktuell der Fall ist. Wenn Noten aber weiterhin vergeben werden, werden sie weitere Funktionen übernehmen. Vereinfacht gesagt, tut es Menschen nicht gut, wenn ihnen Zahlenwerte zugeordnet werden.