Sollten Schüler*innen bei Prüfungen schummeln?

Eine Studentin von mir, Tanja Rochow, hat mit einer Klasse einen Text von Cevin Soling behandelt. Darin geht es um folgende These: Die Schule und die damit verbundene Prüfungskultur belasten und bedrohen Schüler*innen so stark, dass es nicht nur legitim, sondern eigentlich vernünftig und moralisch geboten ist, bei Prüfungen zu schummeln. Dieser Widerstand richtet sich einerseits gegen die Entwertung des Lernens und des Wissens im Kontext von Prüfungen – andererseits gegen die mit Notendruck verbundene Herabsetzung und Bedrohung von Kindern.

Schummeln ist ein moralisches Gebot

Wir denken, schummeln sei falsch, weil wir das so gelernt haben. Tatsächlich haben wir aber alle geschummelt. Diese Differenz zwischen unserer moralischen Intuition und unserem Verhalten löst Soling mit seiner provokanten These auf, indem er Schummeln als Widerstand re-framed.

Hat er damit Recht? Ich habe die Lektion von Tanja Rochow beobachtet und mit zwei weiteren Klassen über das Thema geredet. Die Diskussionen haben das Thema für mich differenziert.

Zunächst muss man drei Arten von Schummeln unterscheiden:

Schummeln 1: authentische Arbeitsbedingungen herstellen
Hier werden künstliche Bedingungen oder künstliche Anforderungen, die es nur in schulischen Prüfungssituationen gibt, unterlaufen. Schummeln stellt so eine authentische Arbeitsumgebung her, welche Lehrpersonen aus unterschiedlichen Gründen verunmöglichen. Während einer Übersetzung ein Wort nachschlagen, eine mathematische Formel mit einem Tool auflösen oder eine Liste mit Fakten konsultieren, sind Verfahren, die Menschen in professionellen Settings nutzen – die aber bei Prüfungen oft verboten sind.
Schummeln 2: mit weniger Arbeit und Hilfe zum guten Resultat
Wer einen Aufsatz von ChatGPT generieren lässt, ist meist nicht bereit, sich hinzusetzen und einen Text selber zu schreiben. Oder weiß: Was das Programm schreibt, führt zu einer besseren Note, als das, was ich schreiben würde. Schummeln ist in diesem Sinne Bequemlichkeit – aus der aber dennoch eine Leistung resultiert, weil sich Schüler*innen Hilfe holen.
Schummeln 3: so tun als ob
In einem dritten Sinne besteht schummeln darin, bei Lehrpersonen einen Eindruck zu erzeugen, der nicht der Realität entspricht. Z.B. markieren Schüler*innen willkürliche Passagen in Lehrmitteln, damit der Eindruck entsteht, sie hätten diese gelesen. So erhalten sie möglicherweise eine bessere Mitarbeitsnote – die sie aber nicht verdient haben.

Weil Schüler*innen von ganz unterschiedlichen Vorstellungen und Funktionen des Schummelns ausgehen, kommen sie zu unterschiedlichen Bewertungen. »Der einzige Sinn der Schule ist für mich, gut schummeln zu lernen«, sagte eine Schülerin – und meinte damit wohl die zweite Bedeutung. Eine andere sagte: »Wer im Leben ständig schummeln muss, sollte sich doch fragen, ob das wirklich ein gutes Leben ist.« Gemeint war dabei wohl Schummeln 3.

Deutlich wird das auch, wenn man ein verbreitetes Beispiel verwendet, das hier auch schon zur Sprache gekommen ist: Wollen wir von einer Ärztin behandelt werden, die in der Schule geschummelt hat? Wenn das im Sinne der Definitionen 1 und 2 gemeint ist, dann ja: Ich hätte gerne, dass sie möglichst gute Arbeitsbedingungen herstellt und sich so viel Hilfe wie möglich holt. Was ich nicht möchte, ist dass sie so tut, als hätte sie mich seriös behandelt, es aber nicht getan hat.

Während es aus dieser Perspektive also vernünftig sein kann zu schummeln, stellt sich immer noch die moralische Frage: Weshalb genau sollte es okay sein, gegen Regeln zu verstoßen, die doch für alle gelten?

Hier gibt es mehrere Antworten:

  1. Solings Antwort lautet: Unter den herrschenden Bedingungen ist gutes Lernen an Schulen nicht möglich. Schummeln ist ein Akt des Widerstandes gegen eine Entwertung von Wissensarbeit und gegen die unwürdige Behandlung von Lernenden, die sich damit einen Teil ihrer Würde zurückholen.
  2. Die Antwort einiger Schüler*innen: Weil schummeln etwas ist, was mir im Leben weiterhilft. Es ist die Funktion von Schule, Kindern und Jugendlichen zu zeigen, wie sie mit Regeln umgehen können. Dazu gehört, sie auch zu brechen.
  3. Die Antwort anderer Schüler*innen: Weil nur durch schummeln Arbeit so möglich ist, wie ich sie später im Alltag werden leisten müssen.
  4. Weil es das Verhältnis von Aufwand und Ertrag verbessert.

Und selbstverständlich ist es auch denkbar, zu sagen, Schüler*innen sollten nicht schummeln (müssen). Wenn wir eine Prüfungskultur herstellen, in der schummeln im Sinne von 1 und 2 nicht mehr möglich sind, in der also Lernende in authentischen Umgebungen arbeiten können und es ihnen erlaubt ist, sich Hilfe zu holen – dann ist schummeln tatsächlich problematisch und etwas, was Kinder und Jugendliche möglichst wenig tun sollten.

(Zum Schluss erlaube ich mir noch eine Bemerkung: Wer bei Prüfungen schummelt, sollte nie mit Notenabzug bestraft werden, egal wie das Schummeln abläuft. Wenn Noten sich auch nur theoretisch auf Leistungen von Schüler*innen beziehen sollten, dann sollten sie nicht durchs Schummeln beeinflusst werden.)

»a class of students cheating in various ways, illustration« (Midjourney)