Bewertungen mit Selbsteinschätzungen – Probleme und Anregungen

Wenn ich als Lehrer über meinen Unterricht nachdenke, tappe ich oft in eine Falle: Vieles funktioniert nicht wie geplant oder gewünscht. Schüler*innen arbeiten nicht mit, sie finden meine Stunden nicht inspirierend. Ich bin langsamer im Steuern der Lernprozesse, als das von mir erwartet wird. Die Schüler*innen können nicht das, was sie können sollten. Ich ziehe Bilanz – und bin unzufrieden mit mir. Dabei übersehe ich, was mir alles gelungen ist, ich merke nicht, wo Fortschritte und Lernfreude entstanden sind; wo meine Vorbereitung Wirkung entfalten konnte.

Dieses Problem hat mit meiner Wahrnehmung zu tun, die Problemen mehr Gewicht gibt als Erfolgen. Und es hat mit den komplexen Anforderungen meines Berufes zu tun – ich sehe 25 Menschen während 45 oder 90 Minuten pro Tag und müsste alle von ihnen permanent voranbringen. Das kann nicht funktionieren.

Müsste ich mich selbst einschätzen, würde ich mich unterschätzen. Besuchen andere meinen Unterricht, sehen sie Leistungen und Kompetenzen, die für mich selbstverständlich geworden sind, die aber meinen Unterricht auszeichnen.

Diese Reflexion meiner Lehrtätigkeit lässt sich als Grundlage einer Kritik der Methode der Selbstbeurteilung heranziehen. Wenn Schüler*innen ihre eigenen Leistungen einschätzen müssen, unterliegen sie denselben Verzerrungen, die mich hinsichtlich meiner Arbeit prägen. Hinzu kommt aber noch ein sozialer Faktor: Sie vergleichen sich permanent mit anderen Mitschüler*innen, von deren Leistungen sie aber oft nur verzerrte Teile kennen.

Selbstbeurteilung funktioniert grundsätzlich so: Vor der Vergabe einer Note werden Schüler*innen gebeten, sich selber eine Note zu geben (oder ihre Leistung in Worten, auf einer Skala etc. einzuschätzen).

Diese Note wird dann mit der Note verglichen, welche die Lehrperson setzt. Manchmal geht es nur um den Prozess, in dem Schüler*innen lernen sollen, sich richtig einzuschätzen. Manchmal passen die Lehrpersonen ihre Noten implizit oder explizit an die Note der Lernenden an.

Dabei gibt es zwei Probleme:

  1. Schüler*innen sollten raten, wie sie die Lehrperson einschätzt, weil es keine objektiv richtige Beurteilung gibt. Noten messen nichts. Hält man sich vor Augen, wie ungenau Noten sind (grob gesagt +/- 1 Note Genauigkeit), dann ist das eine Übung, die wenig bringt.
  2. Wenn Lehrpersonen ihre Noten an die Einschätzung von Schüler*innen anpassen, dann belohnen sie also diejenigen, die sich überschätzen, und bestrafen diejenigen, die sich unterschätzen.

Die Fähigkeit zur Selbsteinschätzung kann im Kontext der Theorie der Leistungsmotivation etwas differenzierter betrachtet werden. Mit Atkinson kann man Erfolgsmotivation und Misserfolgsvermeidungsmotivation unterscheiden. Wer sich selber einschätzen muss, wird im Falle der Erfolgsmotivation eine Note wählen, die leicht über der realistischen Erwartung steht. Wer einen Misserfolg vermeiden will, wählt eine zu tiefe Note (oder eine unrealistisch hohe). Wenn nun Lehrpersonen feststellen, dass einige Schüler*innen sich schlecht einschätzen können (oder das ungern tun), dass stellen sie damit oft nur fest, dass diese Schüler*innen einen Misserfolg vermeiden wollen.

In den 1970er-Jahren hat Heckhausen ein Selbstbewertungsmodell entwickelt, die Unterscheidung von Atkinson enthält. Es zeigt, dass Zielsetzung/Aufgabenauswahl, Ursachenzuschreibung und Selbstverwertung eng zusammenhängen. Ihr Zusammenspiel verändert sich im Laufe der Kindheit und Jugend zudem. Eine Zusammenfassung zeigt diese Darstellung:

Bilanzieren wir, dann sind schulische Selbstbewertungen aus drei Gründen problematisch:

  1. Sie beziehen sich auf eine ungenaue, willkürliche und uneinheitliche Bewertungspraxis.
  2. Sie verzerren die Notengebung von Lehrpersonen zusätzlich.
  3. Sie erfolgen in psychologisch vielschichtigen Zusammenhängen, die je nach Persönlichkeit unterschiedliche Aspekte der Selbstbewertung in den Vordergrund rücken.

Lehrpersonen setzen Selbstbewertungen einerseits deshalb ein, weil sie davon ausgehen, Schüler*innen würden lernen, ihre eigene Leistung besser wahrzunehmen. Das ist diesen Gründen ein Irrglaube. Andererseits können sie so Unzufriedenheit der Schüler*innen minimieren: Wenn sie ihre eigene Bewertung an die Sichtweise der Lernenden anpassen, z.B. wenn es um Mitarbeitsnoten geht, die aus eine Reihe von Gründen grundsätzlich problematisch sind (ein anderes Mal mehr dazu). So können sie bei den meisten Fällen bestätigen, wie die Lernenden sich sehen, weil diese vermeiden möchten, sich komplett getäuscht zu haben und neben einer schlechten Note auch noch die Schmach erleben zu müssen, sich schlecht einschätzen zu können. Die Selbsteinschätzung dient Lehrenden so dazu, Widerstand gegen ihre Notenvergabe zu brechen (weil die Schüler*innen sich ja selber auch so einschätzen).

Was wäre besser? Grundsätzlich offene Dialoge über Lernprozesse, Gespräche, bei denen Lehrende Lernenden zuhören und versuchen, ihre Sichtweise auf (schulisches) Lernen und ihre Leistungen wahrzunehmen. Ist so eine Praxis etabliert, können Schüler*innen sich selber manchmal auch Noten geben – unter Berücksichtigung der Perspektive der Lehrperson, aber soweit eigenständig, dass diese Note nicht von der Lehrperson bestätigt oder korrigiert werden muss. Sie entspricht der Sicht der Schülerin oder des Schülers, sie ist nicht ihre Vermutung, wie die Lehrperson sie beurteilen könnte. Schwierig ist, diesen Prozess sozial so zu verankern, dass sich Mitschüler*innen nicht betrogen fühlen, wenn sie den Vergleich ziehen.

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