Schulische Beurteilungen sind Social Scoring

In einem Beitrag für eine Zeitschrift habe ich kürzlich den Vergleich zwischen Social-Scoring-Systemen und Noten gezogen. Er passt für mich, weil er zeigt, dass Lehrpersonen sich hier an einer Praxis beteiligen, die sie in anderen Kontexten ablehnen. Hier eine Vorabversion des Vergleichs.

Solange Schulen die Aufgabe übernehmen, jungen Menschen gesellschaftliche Privilegien oder Benachteiligungen zuzuweisen, indem sie vorgeben, sie hätten diese aufgrund ihrer schulischen ‘Leistungen’ verdient, müssen sie Individuen Scores zuweisen, die einen Vergleich ermöglichen. Pädagoginnen und Pädagogen finden die Vorstellungen von Social Scoring, die sie aus Berichterstattungen über chinesische Städte kennen, furchtbar. Dabei wird das Verhalten in eine Punktzahl zugerechnet, die dann die Basis für die Vergabe von Privilegien darstellt. Wer also beispielsweise nie das Geschwindigkeitslimit überschreitet und die Steuererklärung rechtzeitig einreicht, darf in der Bibliothek kostenlos Bücher ausleihen, während andere bezahlen müssen. An Schulen wird mit Noten und Prüfungen aber genau dieses Social Scoring betrieben – mit denselben Problemen: 

  1. Die Umrechnung von (Lern-)Verhalten in eine Punktzahl ist willkürlich und findet nur da statt, wo das möglich ist. Wer sich etwa solidarisch verhält und andere unterstützt, kann damit weder Punkte sammeln noch gute Noten erhalten, weil sich dieses Verhalten schlecht bepunkten lässt. Das gilt auch für metakognitive Einsichten: Wer sich bewusst wird, wie sich das eigene Lernen oder Verhalten regulieren lässt, macht einen enormen Fortschritt, kann damit aber keinen relevanten Score erzielen. 
  2. Der Vergleich erzeugt Ungerechtigkeit, weil er ungleiche Menschen in einer zufälligen Hinsicht in eine Rangfolge bringt. Menschen, die ökonomisch oder familiär unter Druck stehen, können sowohl im Social-Scoring-System wie auch in der Schule nicht gleich leicht Punkte erhalten, wie andere das können. Das gilt in der Schule insbesondere auch für Schülerinnen und Schüler, die zuhause wenig Unterstützung erhalten können oder psychisch schlecht mit Prüfungssituationen oder Druck umgehen können. 
  3. Verhaltensweisen können nicht miteinander verrechnet werden. Schon allein statistisch ist es nicht zulässig, Noten zu Durchschnitten zu verrechnen, wie das an vielen Schulen üblich ist. Genauso ist das Verrechnen von Noten über Fächer hinweg problematisch. Aus einzelnen Beobachtungen oder Arbeiten wird so ein Gesamtbild generiert, das höchst ungenau ist, aber eine gravierende Bedeutung für die schulische Laufbahn und berufliche Entwicklung von jungen Menschen hat. 
  4. Wer legt eigentlich fest, wofür es wie viele Punkte gibt? Hier reden sich Verantwortliche an Schulen oft damit raus, dass er hierfür entweder eine Art demokratische Legitimierung oder einen pädagogischen Auftrag gebe. Letztlich sind es aber intransparente und wissenschaftlich nicht haltbare Vorgänge, in denen Prüfungen konstruiert, Erwartungshorizonte festgelegt und Punkte vergeben werden. Das sieht man, wenn man Lehrpersonen fragt, wie viele Punkte sie für eine bestimmte Lösung einer Aufgabe vergeben würden. Ohne Vergleich und ohne Erwartungshorizont führt das immer zu widersprüchlichen Antworten. Daran zeigt sich, dass es eine willkürliche Festlegung braucht. Sowohl im schulischen wie auch im sozialen Kontext gibt es anders als bei Sportarten mit Bewertungen keinen Konsens, wie Verhaltensweisen bepunktet werden sollen. Trotzdem wird es gemacht. 

Diese vier Problemfelder sollten ausreichen, um eine Einsicht in die problematische Wirkung von Noten zu erlangen.