Prüfungen erzwingen realitätsfremde Arbeitsbedingungen – weshalb Prüfungen keine Kompetenzen messen können

An Schweizer Gymnasien ist Informatik seit einer Weile Grundlagenfach. Das bedeutet, dass Schüler:innen eine gehaltvolle Einführung in Informatik als Wissenschaft erhalten, zum Beispiel mit diesem Lehrmittel. Dabei lernen sie recht schnell zu programmieren und entwickeln mit Programmen Lösungen für geometrische und andere Probleme.

Wer programmiert, probiert aus, schlägt Befehle nach, tauscht sich mit anderen aus und holt Feedback zu den eigenen Ideen ein. Einige Programme schafft man in einer intensiven Arbeitsphase, andere lässt man eine Weile liegen und setzt sich dann wieder dran.

Wie gut jemand Probleme mit Programmen lösen kann, wird im Informatik-Unterricht leider oft mit Prüfungen erfasst. Dadurch wird ein Bruch mit den Arbeitsmöglichkeiten erzwungen, die Lernende sonst haben: Sie dürften z.B. nicht aufs Internet zugreifen, dürfen keine Befehle nachschlagen, müssen die Prüfungen teilweise auch auf Papier schreiben, können nicht mit anderen über ihre Programme sprechen etc.

Die Prüfungssituation ist eine künstliche. Das muss sie sein, weil die Beurteilung an bestimmte Bedingungen und zeitliche Strukturen geknüpft ist, weil im Vorgang der Bewertung etwas Spezifisches beobachtet wird (und anderes ignoriert wird). Das bedeutet aber automatisch, dass es nicht mehr um relevante Kompetenzen geht, sondern über prüfungsbezogene. Ich habe an dieser Stelle schon einmal ausgeführt, wie Zeitdruck dazu führt, dass nicht mehr sichtbar wird, was jemand kann, sondern wie gut jemand etwas unter Zeitdruck kann – zwei völlig unterschiedliche Aspekte.

Wenn wir über kompetente Menschen nachdenken, dann müssen sie auch Bedingungen für die eigene Kompetenz schaffen können. Wer professionell programmiert, kann im Idealfall mitbestimmen, wie die Arbeit verläuft: mit welchen Programmiersprachen, mit welchen Tools, in welchen Sozialsettings, mit welchen Zeitverläufen etc.

Bei Institut für zeitgemäße Prüfungskultur gibt es ein Tool, mit dem sichtbar gemacht werden kann, unter welchen Bedingungen Prüfungen erfolgen:

Das Tool ist Ausdruck eines Problems, das mit Prüfungen nicht gelöst werden kann: Eigentlich müssten Schüler:innen selber wählen können, wie ihre Prüfung verläuft – weil sie so darüber reflektieren müssen, unter welchen Umständen sie ihre beste Leistung abrufen können. Dieser Gedanke scheint in vielen etablierten schulischen Settings absurd zu sein, obwohl er völlig naheliegend ist, wenn wir über kompetente Menschen nachdenken. Mit Prüfungen verhindern wir, dass Schüler:innen ihre Kompetenzen zeigen können. Wir versuchen damit etwas zu messen, was sich gar nicht messen lässt. Die Ergebnisse sind von einem massiven Rauschen durchzogen, das ganz stark damit zu tun hat, dass bei Prüfungen beurteilt wird, wie gut sich jemand auf die Prüfungsbedingungen einlassen kann. Das hat mit Kompetenz ganz wenig zu tun (höchstens mit einer abstrakten Prüfungsablegungskompetenz).

Die Lösung wäre ganz einfach, aber sie ist aufwändig: Sie besteht in einer Einladung an Lernende, ihr können zu zeigen. Wie Eltern ihren Kindern ermöglichen, ihnen zu zeigen, was sie gelernt und gemacht haben, sollte die Schule Schüler:innen solche Gelegenheiten geben. Aktuell schaffen sie mit Prüfungen aber Bedingungen, in denen niemand gut arbeiten kann, und verwenden diese Ergebnisse dann für Allokation und Selektion.

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