Noten erzeugen widersprüchliche Beurteilungskulturen

Kürzlich habe ich für einen Vortrag gezeigt, wie die Vorgabe, Schüler:innen benoten zu müssen, zu Konflikten zwischen unterschiedlichen Beurteilungsformen führt. Diese Konflikte haben auch damit zu tun, dass Lehrpersonen den Benotungszwang auch unterschiedlich in ihr Rollenbild integrieren. Aber der Reihe nach.

An den meisten Schulen gibt es vier Beurteilungsformen, die nicht kohärent sind, sondern Widersprüche erzeugen.

Die soziale Beurteilungsform

Noten dienen dazu, in Klassen oder Jahrgängen Reihenfolgen herzustellen. Gute oder schlechte Noten sagen primär etwas über eine Position in einer Gruppe aus. Jürgen Oelkers hat das z.B. bezüglich der Aufsatznoten bei Schweizer Maturprüfungen klar auf den Punkt gebracht: Sie beziehen sich nur auf die Rangreihenfolge in einer Klasse, darüber hinaus können sie keine Gültigkeit beanspruchen (Oelkers 2012, S. 8).

Die soziale Beurteilungsform zeigt sich da, wo Lehrpersonen denken, Noten oder Aufgaben müssten gut »streuen«, es gehe also darum, eine Normalverteilung zu erzeugen.

Einschätzung von Kompetenzen

Eine zweite Beurteilungsform ist die Feststellung von Kompetenzen. Denken wir an einen einfachen Vokabeltest, so geht es darum abzufragen, ob Schüler:innen Vokabeln memorieren können. Wer diese Kompetenz zeigen kann, erhält eine gute Note. Hier wäre es grundsätzlich denkbar, dass alle Schüler:innen zeigen, dass sie etwas können.

Verrechnung

Besonders über längere Zeitspannen werden Noten auch verrechnet: meist zu Durchschnitten. Das ist mathematisch gesehen nicht sauber und sollte nicht passieren, ist aber trotzdem eine verbreite Form um Noten zu generieren. Diese errechneten Noten beziehen sich dann weder auf eine soziale Norm noch geht es darum, Kompetenzen einzuschätzen – sie sind eine Art Zahlenspiel.

Die Auswirkungen dieser Verrechnung sind Phasen, in denen Schüler:innen bewusst schlechte Noten in Kauf nehmen, weil sie wissen, dass sie mathematisch keine Bedeutung mehr haben auf die Verrechnung. Schreiben diese Schüler:innen in der letzten Prüfung der Zeugnisperiode eine schlechte Note, hat das weder mit ihrem Rang in der Klasse noch mit ihren Kompetenzen zu tun, sondern lediglich mit ihrem Verständnis für den Rechnungsvorgang.

Formative Prozessbeurteilung

Die letzte Art der Beurteilung steht etwas neben den anderen, weil Lehrpersonen häufig zurückhaltend sind, sie in Noten zu überführen. Es geht darum, Schüler:innen Rückmeldungen über ihren Lernprozess zu geben. Diese sogenannte formative Beurteilung (die im Idealfall keine Beurteilung, sondern Feedback ist) ist an Schulen verbreitet und für viele Lehrpersonen entscheidend. Sie erzeugt aber den Widerspruch, dass gewisse Schüler:innen individuell Fortschritte machen und sinnvolle Lernprozesse gestalten – im Vergleich mit anderen aber nicht gleich gut bewertete Kompetenzen vorweisen können (typischerweise sichtbar bei Schüler:innen, die Deutsch lernen – und dann trotzdem nicht gleich gute Texte schreiben wie diejenigen, die Deutsch als Erstsprache gelernt haben).

Noten und Prüfungen sind eingebunden in ein Gemisch dieser Prüfungskulturen. Die tiefe Frustration, die Noten bei Schüler:innen hervorrufen (als Beispiel die Geschichte von Ines), hängt damit zusammen: Kann gut sein, dass Schüler:innen sich enorm anstrengen und Fortschritte machen, aber halt im Vergleich mit anderen schlechter dastehen oder beim Verrechnen ihrer Noten Pech haben.

Das Problem wirkt sich auch auf die Beurteilungstypen bei Lehrpersonen aus. Ich habe bereits einmal ausführlicher über die Untersuchung von Kathleen Falkenberg geschrieben, die vier Typen von Lehrpersonen unterscheidet, was die Haltung zu Beurteilung und Gerechtigkeit betrifft.

Kurz gefasst sehen Lehrpersonen ihre Beteiligung an Beurteilung wie folgt:

  1. Messer:innen nehmen Prüfungsvorgänge als Messvorgänge wahr. Sie reden sich ein, Leistungen objektiv erheben zu können. So führen sie auch Prüfungen durch.
  2. Expert:innen geht es darum, alle rechtlichen Vorgaben einzuhalten. Sie prüfen so, dass weder Schüler:innen noch Eltern damit ein Problem haben – und führen Prüfungen so durch, dass sie möglichst gesetzkonform sind.
  3. Berater:innen möchten Schüler:innen erklären, wie Noten zustande kommen. Sie diskutieren über Noten und bevorzugen eine individuelle Bezugsnorm, die für einzelne Schüler:innen optimale Ergebnisse erzeugt.
  4. Begleiter:innen orientieren sich noch stärker an Bedürfnissen von Schüler:innen. Sie sind auch bereit, Noten zu vergeben, die Defizite kompensieren, um Schüler:innen insgesamt gesehen auf ihrem Lebensweg möglichst stark unterstützen zu können.

Lehrpersonen nehmen wahr, dass nicht alle dieselben Rollenbilder haben. Das führt an Schulen zu Konflikten, macht aber Schüler:innen im Fachlehrpersonensystem deutlich, dass es Widersprüche zwischen Wahrnehmungen und Durchführungspraktiken von Noten gibt. Das Ergebnis sind immer Verfahren, die intransparent sind und Machtmittel einsetzen, um die Widersprüche zu verdecken.

Die (politisch leider utopische) Forderung nach einer Abschaffung von Noten ist die beste Lösung für die hier skizzierte Problematik. Eine andere wäre die Auslagerung von Beurteilung in standardisierte Tests, die außerhalb der Schule stattfinden. Dadurch könnten sich Rollenbilder angleichen und schulische Praktiken den Widerspruch zwischen individueller Förderung und selektiver Beurteilung auflösen. Gleichzeitig würden damit neue Probleme auftauchen, die insbesondere damit zu tun haben, dass die Ergebnisse standardisierter Tests verglichen werden können und dazu führen würden, dass insbesondere innovative und mutige Schulen unter Druck gerieten, so zu arbeiten, dass Schüler:innen möglichst gute Ergebnisse erzielen.

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