Noten als Gamification des Unterrichts

Unterricht ist kein Spiel – weil Spiele gemäß der bekannten Definition von Huizinga »ihr Ziel in sich selber« haben. Unterricht wird aber ständig gamifiziert: Elemente und Prozesse von Spielen werden auf seine Gestaltung übertragen. Gerade im Zug der Digitalisierung des Unterrichts wird das häufiger thematisiert, weil digitale Medien Vorgänge aus (Computer-)Spielen sehr gut abbilden können.

Ein einfaches Beispiel ist Kahoot!: Schüler*innen erhalten Punkte für das (schnelle) Beantworten von Multiple-Choice-Fragen, damit wird eine Rangliste erstellt.

Kahoot! ist eine Plattform, die zu kurzen gamifizierten Sequenzen führt. Andere Plattformen erlauben es, den ganzen Unterricht zu gamifizieren: zum Beispiel  Classcraft. Ein damit erfahrener Lehrer beschreibt das Vorgehen wie folgt:

Seit 2013 verwandeln sich meine Schüler in Krieger, Magier oder Heiler und erleben das Schuljahr als Abenteurergruppen, die sich ihren Weg durch die Welt von Classcraft bahnen. Dabei erleben sie den Unterricht als eine eigenständige, fantastische Geschichte, an der sie nicht nur passiv teilhaben, sondern auch durch das Storytelling ein Teil davon werden.
[…] ein typisches Beispiel: Miri, ihres Zeichens Magierin in einer sechsköpfigen Gruppe, stört den Unterricht. Sie bekommt vom Spielleiter (Lehrer) 10 Schadenspunkte. Aber Miri hat Kriegerin Luzia im Team, die ihm mit der Fähigkeit „Schutz I“ beisteht: Luzia steckt die 10 Schadenspunkte stellvertretend für Miri ein, bekommt aber unterm Strich nur 8 Schadenspunkte (Krieger sind gut gepanzert!). Diese Aktion kostet Luzia 15 AP. Weil es sich um eine kooperative Fähigkeit handelt, bekommt die Kriegerin 100 XP gutgeschrieben. […]
Sollten die Lebenspunkte eines Schülers trotzdem einmal auf 0 fallen, wird per Zufallsgenerator eine Strafe ausgewürfelt.
Classcraft im Unterricht

Die Unterrichtsstörung von Miri wird so als zu einem erzählerischen Element in einer Fantasy-Geschichte. Die Strafe des Lehrers führt zu einem Punktabzug im Spielsetting, der sozial moderiert wird. Spielergebnisse (Verlust aller Lebenspunkte) haben wiederum Konsequenzen im Schulsetting (Strafe per Zufallsgenerator).

Gamifizierung braucht aber keine digitalen Medien: Auf einem Symposion hat Thomas Schroffenberger mich kürzlich darauf hingewiesen, dass Noten eine ganz fundamentale Gamifizierung des Unterrichts darstellt. Wie bei Classcraft gibt es ein Schulsetting, in dem Schüler*innen Lernaktivitäten entfalten, und ein Spielsetting, in dem diese Lernaktivitäten in eine Erzählung und eine Bewertungsmatrix eingebunden werden.

Die mit Noten verbundene Erzählung muss wohl in einem anderen Text länger diskutiert werden. Grundsätzlich geht es dabei um die Fragen, wer Erfolg verdient hat oder erwarten kann und wem aufgrund von Anstrengung Privilegien zustehen.

Ausgehend von dieser Einsicht – Noten sind ein Mittel der Gamifizierung von Unterricht – lässt sich eine Diskussion von Vor- und Nachteilen von Noten führen. In der Definition von Oliver Bendel zu Gamifizierung steht dazu:

Ziele von Gamification sind Motivationssteigerung und Verhaltensänderung bei Anwenderinnen und Anwendern. Zu den spieltypischen Elementen gehören Beschreibungen (Ziele, Beteiligte, Regeln, Möglichkeiten), Punkte, Preise und Vergleiche. Zu den spieltypischen Vorgängen zählt die Bewältigung von Aufgaben durch individuelle oder kollaborative Leistungen.
Der Erfolg von Gamification ist stark von der Haltung der Anwenderinnen und Anwender und ihrer Affinität zu Spielen abhängig. Zudem ist es wichtig, dass die Elemente und Prozesse professionell, wirksam und stimmig umgesetzt sind. Unklar ist, ob Gamification zu einer Gewöhnung an das Spielerische führt und die Motivation in traditionellen Bereichen weiter senkt.

Setzt man statt »Gamification« hier Noten ein, dann steht Folgendes in der Definition:

  1. Noten sollen Motivation steigern.
  2. Noten sollen erwünschte Verhaltensweisen befördern.
  3. Noten entstehen bei der Bewältigung von Aufgaben durch Leistungen.
  4. Noten sind erfolgreich, wenn Lernende entsprechende Haltungen einnehmen und dazu affin sind.
  5. Noten funktionieren, wenn sie professionell, wirksam und stimmig umgesetzt sind.
  6. Noten können zu einer Gewöhnung führen und die Motivation für nicht-benotete Lernprozesse senken.

Das sagt schon recht viel über mögliche Probleme mit Noten aus. Betonen möchte ich abschließend folgende Punkte: Noten funktionieren bei Lernenden, die sich daran gewöhnt haben und Noten mögen. Lehrpersonen sind oft solche Lernenden gewesen. Deshalb überschätzen sie die positiven und unterschätzen die negativen Aspekte von Noten. Zu denen gehören insbesondere wenig wirksame Benotungsvorgänge sowie negative Auswirkungen auf alles, was nicht gamifziert wird. Das lässt sich auch an Systemen wie Classcraft zeigen: Wenn die Störung einer Schülerin zu Punktabzug führt – wie ist es dann mit dem Schüler, der einfach eine Stunde zum Fenster raussieht? Gibt es auch Punktabzug? Und was mit der Schülerin, die immer ganz freundlich ist am Morgen und alle begrüßt – kriegt die Bonuspunkte? Kriegen die alle, wenn sie einander am Morgen begrüßen? Übertragen auf Noten: Weshalb werden nicht alle Fächer benotet? Weshalb nicht alle Lernleistungen? Bedeutet das dann nicht, dass die Motivation sich nur auf die Aspekte richtet, die auch gamifiziert sind?

Das sind keine einfachen Probleme, sondern der Gamification inhärent. Gamification ist kein Spiel, nichts, was man mal einfach ausprobieren kann. Es verändert Handlungen radikal, wenn sie mit Punkten bewertet werden. Einerseits schafft das Autorität, die Regel setzt und anwendet, andererseits verändert es Motivation fundamental. Wer andere nett begrüßt, weil das ein gutes Gefühl gibt, handelt völlig anders als jemand, der oder die das tut, weil es in einem Spiel Punkte gibt. Genau so handeln Menschen anders, die Vokabeln lernen, um eine Sprache gut sprechen und verstehen zu können, als solche, die das tun, weil es in einem Test eine Note gibt.

Bildquelle

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