Ist die Abschaffung von Noten eine sinnvolle Reform?

Diese Woche sind in zwei rechten Publikation in der Schweiz kritische Artikel zur Frage erschienen, ob Noten abgeschafft werden sollen. Das ist erfreulich: Es bedeutet, dass diese politische Bewegung so viel Gewicht hat, dass sie wahrgenommen (und bekämpft wird).

In der NZZ paraphrasiert Katharina Fontana die Argumente konservativer Lehrer (ausschließlich Männer):

Die Schule brauche keine weiteren Grossbaustellen, und ohne Noten oder Selektion werde sie in keiner Weise besser.

In seinem Newsletter fordert (Paywall) der Nebelspalter-Chefredaktor Markus Somm in zwei Folgen, Reformen an Schulen einzustellen, weil die PISA-Ergebnisse immer schlechter würden:

Würde man dann nicht meinen, es wäre Zeit, einmal innezuhalten? Und eine mit Daten abgestützte Bilanz zu ziehen?

Befreit man diese Standpunkte von ihrer Polemik und ihrer ideologischen Rahmung, dann bestehen sie aus einem Argument, das durchaus geprüft werden muss: Könnte es sein, dass die Reformschritte, die von Noten wegführen, so aufwändig sind, dass die erhofften Resultate daneben vernachlässigbar sind?

Dazu möchte ich folgende Gedanken anbieten:

  1. Noten abschaffen ist kein isolierter Reformschritt.
    Er ist eingebunden in Bestrebungen, schulisches Lernen mit persönlicher Sinnstiftung anzureichern, Schüler:innen stärker einzubeziehen, individueller auf ihre Bedürfnisse einzugehen, Kompetenzen in den Vordergrund zu stellen und Schulen vom Selektionsauftrag wegzubringen. Nimmt man all das ernst, dann ist die Abschaffung von Noten keine Reform an sich, sondern die Konsequenz aus bereits erfolgten und umgesetzten Reformen.
  2. Noten abschaffen ist eine Entlastung für alle.
    Noten sind ein Stress für Lernende, Lehrende und auch für die Eltern. In der Diskussion wird oft darauf hingewiesen, dass Alternativen mit viel Aufwand verbunden sind, teilweise mit mehr Aufwand. Das stimmt nicht notwendigerweise: Es ist problemlos denkbar, die durch das Wegfallen des Bewertungszwangs freiwerdende Energie in Feedback-Prozesse zu investieren, die für Lehrer:innen und Schüler:innen einen Wert haben. Die Abschaffung von Noten ist einer der wenigen Vorschläge für eine Verbesserung der Schulen, die nicht mit einem zusätzlichen Aufwand verbunden ist.
  3. Notenverzicht führt zu automatischen Reformen.
    Viele der pädagogischen Ideen, die hinter bereits angestrebten Reformen stehen, sollen die Lernqualität verbessern. Viele sind nicht konsequent umgesetzt, nicht genau verstanden oder stehen im Widerspruch zu anderen Funktionen der Schule. Würden Noten wegfallen, würde das viele dieser Projekte vorantreiben, ohne dass das zusätzlicher Steuerung oder Mittel bedürfte. Warum? Orientieren sich Lehrpersonen in ihrer Unterrichtsplanung nicht an Bewertungen und Prüfungen, fokussieren sie automatisch auf Lernprozesse. Sie müssen sich der Frage stellen, wozu und wie Schüler:innen lernen – Prüfungen ersetzen diese Frage. Zudem werden sie automatisch mehr Leistungen von Schüler:innen wahrnehmen, ihr Selbstvertrauen stärken – statt nach Fehlern zu suchen.
  4. Der Wahn der Messbarkeit
    Somm und andere verweisen verzweifelt auf die PISA-Studie um ihr Bauchgefühl, die heutige Schule sei schlechter als die, welche sie selber besucht haben, irgendwie objektiv auszudrücken. Dahinter steckt dasselbe Problem wie hinter Noten: Die falsche Vorstellung, die Qualität menschlicher Aktivitäten wie Unterricht oder Lernen ließen sich über Zahlenwerte ausdrücken. Die Lese- und Rechenfähigkeiten von Schüler:innen stehen in komplexen Wechselwirkungen mit gesellschaftlichen, beruflichen und medialen Transformationen. Sie davon gelöst isoliert zu messen und zu vergleichen – das sagt nichts über die Qualität von Schule aus.

Verbindet man diese Überlegungen, dann ist die Abschaffung von Noten nicht eine weitere, möglicherweise falsche Reform. Sie ist eine längst überfällige, einfach umzusetzende Anpassung, die Energien freisetzt. Die Befürchtung, dadurch sinke die Qualität von Schule und das Kompetenzniveau von Schüler:innen, ist ein konservativer Teufel, der immer wieder an die Wand gemalt wird. Eine ganzheitliche Betrachtung der Schule und ihrer Qualitäten berücksichtigt, dass sinnvolle und angstfreies Lernen für das Leben von Schüler:innen Auswirkungen hat, die sich nicht über Leistungstests in Mathe und Deutsch erfassen lassen.