Gute Noten als Vertrauensvorschuss und Entlastung

Von Lehrpersonen an Berufsschulen habe ich schon vor Jahren gehört, dass sie Lernenden gute Noten geben, ohne diese an Prüfungen oder eine Form von Leistungsmessung zu binden: Die Noten sind ein Vertrauensvorschuss. Die Lehrpersonen bieten Lernenden bedingungslos gute Noten an, weil sie ihnen zutrauen, gute Leistungen zu erbringen.

Das hat zwei entscheidende Vorteile:

  1. Die Motivation der Lernenden bezieht sich aufs Lernen und nicht auf künstliche Anreizsysteme. Lernprozesse verlaufen freier und werden nicht durch Kriterien gesteuert, die Lehrpersonen vorgeben. So kann sich Motivation besser entfalten. Statt Druck entsteht Sog.
  2. Lehrpersonen können Lernende konsequent unterstützen. Sie signalisieren, dass sie ihnen Lernerfolge zutrauen. Das Problem, von der begleitenden und coachenden Rolle plötzlich in die beurteilende wechseln zu müssen, entfällt.

Diese theoretisch und auch utopisch anmutenden Vorstellungen werden tatsächlich umgesetzt.

Marco Jakob hat kürzlich in einem Blogpost berichtet, wie er das macht. Mit seiner Einwilligung übernehme ich hier seine Ausführungen, herzlichen Dank dafür!

Das Original des Textes findet ihr hier, Marcos Linkedin-Profil hier. Seine Texte kann man auch über seinen Newsletter direkt per Mail erhalten!


Wie ich die Noten abschaffte

Marco Jakob  22. November 2022

Mein Ziel war, Raum zu schaffen für Projekte, die die Lernenden wirklich, wirklich selbst wollten. Das ist nicht einfach, innerhalb eines Schulsystems, das in die Gegenrichtung zieht. Meine Erwartungen müssen hinten anstehen, der Lehrplan muss verschwinden und das Wichtigste, die Noten müssen weg. Dafür bedarf es einiger Tricks.

In dieser Serie geht es um Lernen aus intrinsischer Motivation. Wenn man von einem Schulsystem umgeben ist, das auf externem Druck und Machthierarchien basiert, braucht es kreative Hacks, damit solches Lernen gelingen kann. Achtung, manche dieser Hacks können im sozialen System Schule eine Immunreaktionen auslösen!

Wenn nach Monaten der Vorarbeit die Ideen reifen, wenn es gelingt, diese ernst zu nehmen und wenn die Lernenden den Mut für die Umsetzung fassen, dann kann es endlich losgehen. Die Ideen werden noch schnell in ein grobes Konzept geworfen und das Projekt wird gestartet. Als Begleitung kann man sich jetzt darauf konzentrieren, die schlimmsten Hürden aus dem Weg zu räumen und vor allem selbst zur Seite zu stehen. Es ist ein Moment, bei dem die Gruppen richtig Tempo aufbauen können.

Doch plötzlich kommt etwas, das alles zum Stillstand bringen kann: «Wie wird das Projekt am Schluss bewertet?», fragen die Lernenden, bevor sie überhaupt loslegen.

Es ist eine Falle! Wenn ich diese Frage beantworte und ein Beurteilungsraster präsentiere, ist der ganze Zauber vorbei. Sofort würde ich als Lehrperson zur Referenz, an der sich alle orientieren. Die intrinsische Motivation würde sich in ihrer Höhle verkriechen.

Der Widerspruch

Mein Fach ist promotionsrelevant, was bedeutet, dass die Noten der Lernenden in die Berechnung ihrer Gesamtnote einfliessen. Ich war verpflichtet, für alle Lernende je drei Noten pro Semester einzureichen.

Wie löse ich diesen Widerspruch auf? Es geht um die Lernenden selbst und dann doch nicht! Eine Lehrperson kann nicht glaubwürdig sagen, dass es bei einem Vorhaben um die Lernenden geht und gleichzeitig eine Beurteilung vornehmen. Wir Lehrpersonen belügen uns selbst, wenn wir denken, es wäre möglich, diesen Widerspruch aufzulösen.

Ich habe jedes Jahr neue Dinge ausprobiert, aber das Problem liess sich nicht lösen. Irgendwann war für mich klar: Die Noten müssen weg!

Die Noten abschaffen, ohne sie abzuschaffen

🤔 Das System gab mir vor, dass ich drei Noten pro Semester abgeben muss. Welche Noten es sind und wie diese zustande kommen, da witterte ich eine Chance…

💡 Also beschloss ich, allen Lernenden zu Beginn jedes Semesters zwei Varianten für ihre Notengebung zur Auswahl zu geben:

Lernende konnten wählen: Entweder dreimal fix die Note 5.5 (zweithöchste Note in der Schweiz) oder eine übliche Beurteilung mit Leistungsnachweisen.

Wenn die Lernenden hörten, dass ich ihnen dreimal fix eine Note 5.5 (zweithöchste Note in der Schweiz) anbieten würde, schauten sie mich mit riesigen Augen an. Ich erklärte ihnen, dass ich möchte, dass sie sich voll auf die Arbeit an ihren Projekten konzentrieren können und nicht auf die Noten. Also legen wir die Note am Semesterbeginn fest und dann stören sie uns nicht mehr.

Es geht schliesslich darum, dass sie mit ihrem Projekt in der Welt eine Wirkung erzielen oder Kunden suchen, um diese glücklich zu machen (siehe Beschreibung der Challenge). Dazu sollen sie eine Idee wählen, die sie selbst wirklich wollen.

Die Referenz sind sie selbst, die Kunden oder die Auswirkungen in der Welt. Ich bin die falsche Instanz für eine Beurteilung. Die Lernenden formulieren also ihre eigenen Ziele und ich biete an, sie auf dem Weg dorthin zu begleiten.

Wie lief dies ganz praktisch?

Wenn ich die Auswahl der Notengebung präsentierte, gab es in jedem Semester rund ein bis zwei Lernende, die die Variante mit Leistungsnachweisen wählten. Entweder wollten sie die Höchstnote 6 erziehlen oder sie hatten sich so an Beurteilung gewöhnt, dass sie vielleicht ohne Noten Entzugserscheinungen hätten (siehe letztes Zitat einer Lernenden ganz unten). Alle anderen wählten die erste Variante mit den drei Noten, die komplett losgelöst von irgendeiner Leistung waren.

Verständlicherweise waren die Lernenden anfänglich skeptisch, ob ich das wirklich durchziehen würde. Sie fragten mich auch, was passieren würde, wenn die Schulleitung davon erfährt. Ich sagte ihnen, dass es natürlich früher oder später sein kann, dass das Schulsystem darauf reagiert. Ich versicherte ihnen, dass ich mich dann mit ihnen hinsetzen würde und wir gemeinsam eine Lösung finden würden.

Dazu kam es nie. Eigentlich fast schade.

Die heilige Notenkonferenz

Ich hatte also am Ende jedes Semesters dreimal die fixen Noten in die Datenbank eingetragen. Dann schritt ich leicht angespannt zur Notenkonferenz.

Die Notenkonferenz einer Schule ist wie eine religiöse Zeremonie: Alle versammeln sich vor den heiligen Notentabellen. Klasse für Klasse wird heruntergebetet. Bei manchen Klassen geht ein Raunen durch die Menge. Alle Blicke sind auf die Spalte mit den Mathematik-Sünden gerichtet. Dies ist mein Glück, denn so schaut kaum jemand genau auf meine Noten.

Vielleicht hat es niemand gemerkt, weil mein Fach in der Darstellung mit zwei anderen Fächern vermischt war. Oder es haben Leute gemerkt, aber einfach nicht darauf reagiert.

Die Auswirkungen

Endlich hatte ich also einen Weg gefunden, die Noten aus dem Weg zu schaffen, so dass sie unsere Lernvorhaben nicht mehr störten. Die Auswirkungen waren sehr positiv: Die Lernenden konnten sich voll auf ihre Projekte konzentrieren und ich konnte mich auf ihre Seite stellen und mit ihnen zusammen die Projekte vorantreiben. Es wurde gearbeitet und gelernt. Sie haben ihr Lernen sichtbar gemacht in Blogeinträgen und die Projekte der Klasse präsentiert. Alles ohne Notendruck.

Natürlich gab es auch Gruppen, die einen minimalen Aufwand betrieben haben. Aber generell haben wir mehr erreicht.

Besonders erstaunt war ich bei den Präsentationen. Diese waren ohne Noten deutlich besser als in den Jahren, in denen ich die Präsentationen bewertet hatte. Die Lernenden schienen stolz zu sein auf ihre Arbeit, weil es wirklich ihre Arbeit war. Das hat man in den Präsentationen deutlich gemerkt.

Dann ist mir noch etwas aufgefallen: Wir hatten viel mehr Zeit. Denn Prüfungen brauchen Zeit für Vorbesprechung, Durchführung, Nachbesprechung und bei Krankheitsausfällen nochmals das Ganze für Nachprüfungen. Mehr als ein Drittel des Semesters waren wir mit Prüfungssachen beschäftigt. Ohne Noten fiel das komplett weg.

Die Meinung der Lernenden

Zwischendurch habe ich jeweils Umfragen gemacht und gefragt, welche Auswirkungen diese Notengebung für sie hatte. Hier sind die Antworten der Lernenden:

Meine Motivation steigt, denn ich weiss das ich eine gute Note bekomme, auch wenn mal etwas nicht so gut klappt. So weiss ich, dass ich mir auch Fehler erlauben kann und es keine grossen Abzüge gibt. Ich kann aus meinen Fehler lernen ohne Notenabzüge zu erhalten.

Sven* (18)
Eine Positive [Auswirkung auf die Motivation]. Wir wussten, dass wir die 5.5 bekommen werden und fühlten uns dadurch weniger unter druck gesetzt. So arbeiteten wir gerne an unseren Projekten.

Almudena* (17)
Ich hatte nie Stress und konnte deswegen immer gut arbeiten ohne mir grosse Gedanken um meine Noten zu machen. Es war einfacher Fehler zu machen und diese auch zu besprechen weil man genug Zeit hatte für alles. Das hat den Lernprozess viel angenehmer gemacht und auch die Motivation positiv beeinflusst.

Joel* (17)
Ich kann nicht sagen ich war weniger motiviert. Es war einfach eine andere Art von Motivation. Eine bessere. Ich wusste, was auch immer ich mache, ich mache es für mich, dass ich etwas daraus lerne. In anderen Fächern fühlt es sich manchmal an als würde man für die Lehrperson lernen.

Christian* (18)
Ich persönlich war einfach froh, dass ich im Fach WEB keine Angst um Noten haben musste. Dazu führt dass man sich selber nicht stresst. Ich kann dadurch viel besser arbeiten als unter Druck.

Meltem* (19)
Mich persönlich hat es mehr motiviert. Dennoch gebe ich zu, dass in stressigen Prüfungswochen WEB hintenangestellt wurde und dies hängt vermutlich mit der Fixnote zusammen.

Edona* (18)

Kritische Meinungen

Es gab auch ein paar kritische Meinungen. Die sind besonders interessant.

Finde ich gut, weil dies uns entlastet. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass viele dies ausnützen.

Samantha* (18)
Finde ich grundsätzlich eine gute Idee. Ich gehe auch davon aus, dass alle die gewünschte / erwartet Note erhalten haben. Ich denke jedoch, dass eine solche Notengebung auch kontraproduktiv wirken kann, es hat bei manchen dazu geführt, dass sie wenig Engagement gezeigt haben. Ich denke, dass ich mit meinem Projekt bestimmt mehr gemacht habe als andere und die gleiche Bewertung erhalte. Auch wenn wir nicht nur für die Noten lernen, ist diese externe Motivation die grösste bei uns Schüler*innen.

Stefanie* (17)

Zum letzten Satz wollte ich noch etwas sagen, aber mir fehlen die Worte…