Beurteilungen und Macht in der Schule – warum viele Schüler*innen Prüfungen mögen
Wenn ich fordere, auf Noten und Prüfungen zu verzichten, höre ich als Entgegnung immer wieder, ich sollte mit Schüler*innen sprechen: Viele von ihnen akzeptierten Prüfungen nicht nur, sondern würden sie mögen – die damit verbundene Nervosität, der Aufwand für die Vorbereitung, die Emotionen beim Erfolg oder Misserfolg, die Möglichkeit, in einer entscheidenden Situation eine Lernleistung zu erbringen.
Ich spreche immer wieder mit Schüler*innen und weiß, dass diese Sicht durchaus verbreitet ist. Höre diese Perspektive, muss ich immer an einen Schulbesuch an einer Evangelischen Schule in Berlin denken. Ich war mit einer Gruppe rund 17-jähriger Schüler*innen da, die Schule wurde uns von einer Gruppe 13-Jähriger gezeigt. Sie erklärten, dass es für Prüfungen keinen festgelegten Zeitpunkt gebe, sie würden dann Arbeiten schreiben, wenn sie dafür bereit seien. Eine Schülerin meiner Gruppe konnte das fast nicht glauben – wenn sie diese Möglichkeit hätte, würde sie nie Prüfungen schreiben, meinte sie. Darauf entgegnete eines der jüngeren Mädchen: »Das denkst du nur, weil du noch nicht gelernt hast, wie das bei uns funktioniert.«
Diese Einsicht hat mich berührt, weil sie zeigt, wie stark Meinungen über Schule und Lernen durch Gewohnheiten und Machtstrukturen beeinflusst sind. Wir können die Welt immer nur so sehen, wie sie in den Machtgefügen, die wir erleben, erscheint. Foucault hat 1975 in Überwachen und Strafen Folgendes über Macht geschrieben:
Man muss aufhören, die Wirkungen der Macht immer negativ zu beschreiben, als ob sie nur ›ausschließen‹, ›unterdrücken‹, ›verdrängen‹, ›zensieren‹, ›abstrahieren‹, ›maskieren‹, ›verschleiern‹ würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches.
Was eine Prüfung ist, ist für Schüler*innen meiner Gruppe aus dem Gymnasium genauso wirklich wie für die Schüler*innen der Evangelischen Schule. Diese Wirklichkeit ist aber eine andere. Diese Sichtweise auf Macht geht viel tiefer, als wir denken: Auch was Lehrpersonen über Lernen und Prüfungen denken, ist Resultat von Machtprozessen, denen sie selber unterworfen sind. Viele Lehrende führen Prüfungen durch, weil sie davon ausgehen, das werde von ihnen erwartet (tatsächlich wird es oft erwartet oder sogar vorgeschrieben).
Prüfungen sind ein Machtinstrument. Lehrpersonen benutzen sie, um Aktivitäten von Schüler*innen erzwingen und überwachen zu können. Das ist eine Grundeinsicht. Es wäre nun naiv zu meinen, die Abschaffung von Prüfungen würde Macht aufheben. Schüler*innen sind weiterhin in Machtverhältnisse eingebunden, es wäre immer noch die Aufgabe von Schule, ihre Aktivitäten zu steuern, einfach mit anderen Instrumenten. Die Gefahr ist dabei, dass die Erwartung, dass Schüler*innen von sich aus das tun, was von ihnen erwartet wird, fast subtilere und problematischere Machtverhältnisse schafft, als die Prüfungen. Die Tatsache, dass sich Schüler*innen stark mit Prüfungen identifizieren und denken, sie bräuchten diese zum Lernen, zeigt, wie diese Macht auch dann wirkt, wenn sie direkt als solche erkennbar ist.
Die starken Gründe, von Leistungsmessung abzurücken (weil sie ungenau und ungerecht ist), haben nichts damit zu tun, dass Schule dadurch weniger Macht ausüben könnte. Gerade auch durch die Möglichkeit, sich den Machtmechanismen einer Prüfung z.B. durch Betrügen entgegenstellen zu können (vgl. dazu diesen sehr anregenden Gedankenanstoß), machen Prüfungen und Bewertungen Macht offensichtlich, die sonst subtiler werden könnte. Gleichzeitig sind aber natürlich Schul- und Lernkulturen denkbar, in denen Schüler*innen mehr Freiheiten genießen und Machtstrukturen mitprägen können, ihnen weniger unterworfen sind. Der Verzicht auf Bewertungen kann ein Puzzleteil dabei sein – führt aber nicht automatisch zu dieser Veränderung.