Wie weit haben sich Schulen von Noten gelöst? Eine Bestandsaufnahme Ende 2022

Diesen Newsletter gibt es mittlerweile über ein Jahr – ich danke allen, die ihn lesen, es sind mittlerweile fast 400 Personen. Über meine Erfahrungen beim Aufbau habe ich hier einen kurzen Bericht verfasst.


#ungrading ist eine politische Bewegung: Sie setzt sich dafür ein, Lernen beurteilungsfrei zu gestalten. Alfie Kohn schreibt in der Einleitung zum Ungrading-Buch:

Many have come to realize that (a) grades have been driving much of what happens in their classrooms, (b) this is a serious problem, and (c) it doesn’t have to be that way.

Die Erkenntnis von (a) und (b) reicht nicht – es geht letztlich darum, etwas am aktuellen Zustand zu ändern. Zum Jahresschluss frage ich mich, wo die Bewegung im deutschsprachigen Raum aktuell steht – und was noch zu tun ist.

  1. #ungrading erreicht keine demokratischen Mehrheiten
    Wenn es darum geht, auf der Policy-Ebene (also bei verbindlichen Vorgaben) Änderungen zu erzielen, dann finden sich heute problemlos Mehrheiten für Noten (und meist auch für standardisierte Prüfungen klassischen Zuschnitts). #ungrading ist eine politische Nische, die gerade in der Parteipolitik erst am linken Rand etwas Fuß fassen konnte – obwohl #ungrading die Qualität von schulischem Lernen in jeder Hinsicht verbessern würde und kein linkes Anliegen ist.
  2. Der Zusammenhang zwischen Noten und Belastung ist erkannt
    Viele Lehrpersonen, Schüler*innen und Eltern haben erkannt, dass Noten(druck) zu Stress führt und die Belastung von Jugendlichen erhöht. In einer Zeit, in der psychische Krankheiten Konjunktur haben, ist das ein relevanter Punkt. Betroffene können artikulieren, dass ich am Notensystem etwas ändern muss, wenn die Schule die grundlegenden psychischen Bedürfnisse junger Menschen in den Vordergrund rückt.
  3. Eine notenfreie Grundschule
    Zumindest in den ersten Schuljahren ist ein kompletter Verzicht auf Noten umsetzbar. Besonders Primarschulen in der Schweiz kommen bei den jüngsten Schüler*innen ohne Noten aus.
  4. Kompetenzorientierung als Notenkiller
    Der Fokus auf Kompetenzen und Kompetenznachweise macht Noten absurd. Wenn es darum geht, dass Lernende befähigt werden, bestimmte Fertigkeiten zu können, dann ergibt es wenig Sinn, sie zusätzlich zu benoten. Die zunehmende Orientierung an Kompetenzen lässt Noten künstlich erscheinen.
  5. Versuche im Rahmen des rechtlich Zulässigen
    Lehrpersonen ergreifen zunehmend Möglichkeiten, Prüfungsformen und Notengebung zu überdenken. Das ist keine Mainstream-Bewegung, da die Berufssozialisierung und die Normen an vielen Schulen klassische Prüfungen und Noten weiterhin priorisieren, aber immer mehr Lehrpersonen loten aus, was geht und wie weit sie sich vom Zwang, alles benoten zu müssen, entfernen können. Diesbezüglich ist auch eine gewisse Vernetzung zu erkennen.
  6. Offene Türen bei Verantwortlichen
    Spreche ich mit Schulleitungen und Verantwortlichen in der Verwaltung, dann spüre ich eine gewisse Bereitschaft, einen Wandel einzuleiten und Freiräume zu schaffen. Ein Verzicht auf Noten ist aktuell nicht denkbar, der Vorschlag wird meist als radikal und utopisch dargestellt. Aber es gibt ein Problembewusstsein für die Belastung, die durch Noten entsteht – und eine Haltung, die einlädt, einen Wandel zu initiieren.

Werde ich gefragt, ob ich in Bezug auf #notenade oder #ungrading optimistisch sei, verweise ich manchmal auf die Entwicklung hin zu rauchfreien Schulen. Ich habe Schulen besucht, in der Lehrpersonen und ältere Schüler*innen im Schulhaus rauchen durften. Das ist heute undenkbar, war damals aber selbstverständlich. Ich bin heute 45, der Weg zu rauchfreien Schulen brauchte wohl 15 Jahre. Bei Noten wird es wohl deutlich länger brauchen – ich vermute aber, dass ich noch als aktiver Lehrer Schulen erleben werde, die nur noch halb so viele Noten vergeben, wie das heute der Fall ist. Darauf freue ich mich.

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