Wie Prüfungen das Lernen entwerten

Lehrpersonen kennen das Gefühl: Die Aufmerksamkeit einer Klasse verschwindet. Das, worum es gerade geht, ist nicht mehr im Fokus der Klasse – die Schüler:innen beginnen zu schwatzen, vielleicht über Privates, vielleicht über die nächste Prüfung. Einige schauen einfach gebannt in ihre Bildschirme und es wird klar: Sie bekommen nicht mit, was gerade bei der Lehrperson läuft, und tun nicht das, was die Planung der Lektion für die Schüler:innen vorsieht.

Was tun? Ein Hilfsmittel ist der Hinweis auf eine Prüfung.

«An der Prüfung müsst ihr das auch können!»
«Denkt ihr daran, dass wir in 10 Tagen eine Arbeit schreiben, dann solltet ihr diese Aufgaben beherrschen…»
«Gut, wenn euch das nicht mehr interessiert, dann können wir ja bald einen Test schreiben.»

Solche Aussagen scheinen oft zu wirken: Die Schüler:innen hören zu, beenden ihre Gespräche, nehmen ihre Notizen hervor oder klappen die Laptops zu. Für den Moment. Sobald der Prüfungsdruck nachlässt oder in einem anderen Fach dringlicher wird, lässt die Aufmerksamkeit aber noch stärker nach.

Viele Lehrpersonen denken, Prüfungen seien das einzige Mittel, mit dem sie Schüler:innen dazu bringen können, den Unterrichtsstoff ernst zu nehmen, Lernaktivitäten zu entfalten und Motivation zu verspüren – weil sie spüren, dass Schüler:innen sich vor einer Prüfung am intensivsten mit dem auseinandersetzen, worum es eigentlich gehen sollte. Das merken auch Schüler:innen, vor Prüfungen verstehen sie plötzlich zusammenhänge und dringen tief in die Materie ein.

Gleichwohl ist das ein fundamentaler Trugschluss. Wer Prüfungen so einsetzt und sie nicht als (möglicherweise) gesetzlich vorgeschriebenes Übel oder als überholte Praxis anschaut, verkennt, dass Lernen selber eine magnetische Kraft hat. Etwas zu verstehen oder etwas zu können ist das, was echte Motivation erzeugt. Auseinandersetzungen mit fachlichen Inhalten ist an eine Entwicklung gebunden. Jugendliche können oft nichts mit Themen anfangen, die nicht zu ihrer Entwicklung passen. Sie mit Prüfungen dazu zu zwingen, sagt ihnen, dass ihre Entwicklung nicht ernst genommen wird, ihre Lernbedürfnisse nicht adressiert werden. Alle Menschen wollen lernen und können lernen – nur nicht zur selben Zeit dasselbe. Zwang zu normalisieren ist keine Lösung, sondern ein massives Problem, das die Lernbereitschaft und Motivation von Menschen tiefgehend schädigt. Die Rede von «extrinsischer Motivation» ist symptomatisch dafür, dass sich Lehrpersonen einreden, dass sie mit Druck Motivation erzeugen können – obwohl das Gegenteil der Fall ist.

Lernen muss eine Faszination auslösen, muss eine Kraft an sich entfalten – und nicht aus psychischem Druck entstehen. Wer daran glaubt, wird Prüfungen zumindest zurückhaltend einsetzen oder ganz auf sie verzichten. Wer Prüfungen nutzt um Aktivitäten von Schüler:innen zu steuern, sagt damit, dass er oder sie selber nicht daran glaubt, dass der Unterrichtsinhalt spannend und lernenswert ist.

Illustration: Dall-E

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