Wie man Menschen sehen muss, damit man auf Noten verzichtet
Menschen nehmen die Welt oft verzerrt war. Ihr Denken ist geprägt von mehreren Störungen, die man auf Englisch Bias nennt. Ein Beispiel dafür ist, dass Menschen Wahrscheinlichkeiten eher schlecht in ihre Entscheidungsfindung einbauen können. Eine der für mich irritierendsten Verzerrung ist folgende: Viele Menschen denken, die anderen würden ihr Verhalten an Mustern ausrichten, die für sie selbst keine Bedeutung haben. Zum Beispiel denken in der Schweiz viele Menschen, die anderen würden zu oft und zu schnell medizinische Leistungen in Anspruch nehmen. Über sich selber denkt das kaum jemand. Dasselbe trifft auf die Idee des Grundeinkommens zu: Viele Menschen denken, die anderen würden kaum mehr produktiv arbeiten, wenn ihre Grundbedürfnisse gedeckt wären. Sie sind sich aber sicher, dass sie selber weiterhin gern arbeiten würden.
Derselbe Gedanke trifft auf das Menschenbild hinter Noten zu. Vermischt mit Vorurteilen gegenüber Kindern und Jugendlichen (so genannter Adultismus) denken einige Lehrpersonen, Eltern und andere Notenfans, sie würden nichts lernen oder leisten, wenn es keinen Druck gäbe. Fragt man sie nach eigenen Lernerfahrungen, so sagen diese Menschen meist, dass sie gern lernen, Freude daran hätten und Noten eigentlich nicht brauchen würden, schon gar nicht in ihrem Arbeitsalltag als Erwachsene. Gleichzeitig sind sie aber überzeugt, dass Kinder und Jugendliche nicht so funktionieren können. Sie sehen sie als metaphorische Esel, die sich nicht bewegen, wenn man ihnen keine Karotte vor die Nase hängt (oder sie mit einem Stock bedroht).
Dieses Menschenbild ist grundsätzlich problematisch. Alle Menschen können Freude am Lernen und an der Produktivität entwickeln, wenn sie die richtigen Umgebungen und Beziehungen vorfinden. Die Schule hat die Aufgabe, das zu tun – nicht zu akzeptieren, dass junge Menschen in ein Schema von Belohnungen und Strafe eingebunden werden.
Motivationspsychologisch nutzen sich Belohnungen zudem schnell ab und schaffen oft auch Fehlanreize – der entsprechende Wikipedia-Beitrag gibt aufschlussreiche Hinweise dazu. Letztlich sind Schüler:innen, die nur etwas machen, wenn es Noten gibt (und sie diesen Noten auch 'brauchen'), das Produkt eines problematischen Menschenbilds. Weil Lehrpersonen ihnen aber oft begegnen, nehmen sie sie zur Ursache, so über Menschen zu denken.
Auch Esel brauchen keine Karotten, um etwas zu tun und gut zu leben. Wer sie mit dem Karotten-Trick gängelt, respektiert sie als Lebewesen nicht und möchte etwas von ihnen, was sie nicht zu geben bereit sind, wenn sie nicht verarscht werden. Wer Menschen als leistungsfähig, kreativ und begeisterungsfähig wahrnimmt, braucht keine Noten, um mit ihnen an Projekten zu arbeiten. Das gelingt vielen Erwachsenen im Arbeitsalltag. Deshalb sollte es auch möglich sein, in der Schule so mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten.