Welche Bedürfnisse decken Noten ab?

Im bekannten Aufsatz zur Selbstbestimmungstheorie der Motivation von Deci und Ryan findet sich eine vernichtende Passage zur Notengebung. Die beiden Autoren schreiben:

Diese Befunde legen den Schluß nahe, daß benotete Leistungsprüfungen in der Schule, als die am weitesten verbreiteten Mittel zur Kontrolle der Lernmotivation, „Schüsse in den Ofen" sind. Sie rufen nicht nur negative affektive Reaktionen hervor, sondern bewirken darüber hinaus auch ein qualitativ schlechteres Lernverhalten.

Deci und Ryan gehen davon aus, dass Motivation stark mit drei Grundbedürfnissen zusammenhängt:

  1. Kompetenz oder Wirksamkeit
  2. Autonomie oder Selbstbestimmung
  3. soziale Eingebundenheit oder soziale Zugehörigkeit

Benotete Prüfungen erfüllen diese Grundbedürfnisse in der Ansicht der Autoren nicht. Betrachten wir umfassendere Darstellungen von Bedürfnissen, so wird klarer, welche davon von Tests und Noten angesprochen werden:

Auf den ersten Blick naheliegend sind:

  • Erfolg
  • Anerkennung
  • Herausforderung

Denkt man etwas genauer darüber nach, dann sind wohl auch Bedürfnisse nach Sicherheit, Wissen, Routine und Effizienz angesprochen – Prüfungen können Schüler:innen Sicherheit geben (das Richtige auf die richtige Art zu lernen), lassen sie spüren, dass sie etwas wissen und führen zu Vorbereitungsstrategien, bei denen sich Effizienz erleben lässt.

Was fehlt ist ein Bedürfnis, das sich beim Verzicht auf Noten teilweise deutlich zeigt: Gewissen Schüler:innen ist es wichtig, sich über Prüfungen von anderen abheben zu können. Es ist das Bedürfnis, in sozialen Hierarchien oben zu stehen. Einigen Schüler:innen (zu denen ich auch gehörte), fällt das über Prüfungen und Noten leicht, während andere das im Sport erleben, andere bei sozialen Aktivitäten oder beim Dating etc.

Verzichtet man auf Prüfungen, stellt das die Befriedigung dieser Bedürfnisse zumindest infrage. Ist es ein gutes Erfolgserlebnis, eine gute Note zu erhalten? Sind Prüfungen Herausforderungen, die Menschen helfen, sich positiv zu entwickeln? Sollte die Kraft des Wissens beim Beantworten von Prüfungsfragen erlebt werden?

Das sehen viele Menschen unterschiedlich. Vieles rund um Prüfungen und Schule ist erlernt, es ist nicht natürlich. Schüler:innen gewöhnen sich an Prüfungen, sie werden konditioniert, Noten mit Emotionen, Erfolg und sozialem Status zu verbinden. Ohne Noten fiele das weg, in notenfreien Schulen kommt gar niemand auf die Idee, seinen Selbstwert oder sozialen Rang von Prüfungsresultaten abhängig zu machen.

Eine Art Fazit: Die für Motivation zentralen Bedürfnisse werden durch Prüfungen und Noten eher gestört als befriedigt. Und die anderen Bedürfnisse, die Prüfungen abdecken können, liessen sich ohne nachhaltiger und tiefgründiger ansprechen.

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