Vier Vorstellungen von Noten
Kathleen Falkenbergs Studie zu Gerechtigkeitsüberzeugungen bei der Leistungsbeurteilung von 2020 verdichtet unterschiedliche Vorstellungen von Lehrpersonen bei der Notengebung zu vier Typen. Dabei orientiert sie sich an Lehrpersonen aus NRW und aus Schweden. Im Folgenden stelle ich die Typen kurz dar – ich habe die Darstellung schon einmal verlinkt.
Die Untersuchung von Falkenberg ist wichtig, weil sie zeigt, dass die Auseinandersetzung mit Noten und Leistungsbeurteilung an Schulen unter ganz unterschiedlichen Voraussetzungen geführt wird – Lehrpersonen verstehen ihre Rolle und ihre Arbeit unterschiedlich und leiten daraus unterschiedliche Vorstellungen über Beurteilungsprozesse ab.
Typ 1:
Mathematisch-rechnerische Gerechtigkeitsüberzeugung
- Selbstbild: Lehrperson, die Wissen vermittelt
- Aufgabe: Leistungsstand feststellen, indem er gemessen wird
- Prüfungen: schriftliche Arbeiten als valide Form der Leistungsmessung
- Beurteilungsprozess: mathematischer Vorgang
(Leistungen → Punkte, Punkte → Noten) - Orientierung an Normalverteilung, Notenbild einer Klasse sollte »unauffällig« sein (also normalverteilt), deshalb wird Punkteraster oder Notenschlüssel oft später angepasst
- dadurch ist die Überzeugung stark an einer sozialen Bezugsnorm orientiert
- statischer Leistungsbegriff: Schüler*innen wird eine bestimmte Leistung zugetraut, kaum Blick auf Entwicklung von Lernenden
- Widerspruch: Noten werden willkürlich gesetzt (und Skalen verschoben), aber dann gleich auf alle Schüler*innen angewendet, was dann als objektiver Vorgang erscheint
Typ 2:
Prozedural-bürokratische Gerechtigkeitsüberzeugung
- Selbstbild: Expert*in mit viel Vertrauen in eigene Beurteilungskompetenz und gleichzeitig Beamt*in
- Aufgabe: Beurteilungsverfahren objektivieren und entpersonalisieren
- Prüfungen: schriftliche Arbeiten und Dokumentation mündlicher Leistungen- Beurteilungsprozess: Zerlegen von Beurteilungsvorgänge in kleine Bestandteile, die Objektivität garantieren sollen, kriteriale Bezugsnorm
- Orienteriung an rechtlicher Anfechtbarkeit, Noten sollen so gut dokumentiert sein, dass sie bei Rekursen nicht verändert werden müssen.
- Beziehungen zu Lernenden eher distanziert, weil subjektive Faktoren Beurteilung nicht beeinflussen dürfen.
- Widerspruch: Beurteilungsverfahren sollen Transparenz herstellen, gleichzeitig wird Schüler*innen oft nur selektiv Einsicht in die Prozesse gegeben, »Diskussionen« sollten vermieden werden
Typ 3:
Diskursiv-interaktive Gerechtigkeitsüberzeugung
- Selbstbild: beratende Lehrkraft, der Schüler*innen vertrauen können
- Aufgabe: Schüler*innen verständlich machen, wie Beurteilung funktioniert
- Prüfungen: Sollen Schüler*innen primär helfen, ihr Lernen voranzubringen, deshalb erweitertes Leistungsverständnis, zu dem auch Lernprozesse gehören (nicht nur fertige Produkte oder Prüfungsantworten).
- Widerspruch besteht zu standardisierten Prüfungskulturen.
- Starker Fokus auf individuelle Bezugsnorm, mit Verweisen auf kriteriale Bezugsnormen.
- Diskussionen über Bewertungen und Einbezug subjektiver Überlegungen sind erwünscht und bei Beurteilungsverfahren die Regel.
Typ 4:
Kompensatorische Gerechtigkeitsüberzeugung
- Selbstbild: Lernbegleiter*in, verantwortlich für Lernerfolg der Schüler*innen.
- Aufgabe: Schüler*innen mit Beurteilung bei ihrem Lernprozess unterstützen
- Prüfungen: Sollen Schüler*innen primär helfen, ihr Lernen voranzubringen, deshalb erweiterter Leistungsbegriff, bei dem auch Aspekte wie Bemühen und Anstrengung gewürdigt und kleinere Lernfortschritte hervorgehoben werden sollen.
- Individuelle Bezugsnorm entscheidend, kriteriale Bezugsnormen werden beigezogen, um Förderbedarf abzuleiten.
- Bewertungen werden ausgleichend vergeben, also primär so, dass Schüler*innen ihre Stärken einbringen können (z.B. mündlich-schriftlich). Hier erfolgt eine Form von Kompensation.
- Widerspruch besteht hier zu den Anforderungen des Systems.
- Voraussetzung für gerechte Beurteilungen sind enge Beziehungen zwischen Lernenden und Lehrenden.
- Mitarbeit von Lernenden ist sehr wichtig: Wenn sie sich nicht anstrengen, scheitern Förderbemühungen von Lehrkräften.
Falkenberg schreibt bilanzierend (S. 607ff.):
Bei der Rekonstruktion dieser vier Muster von Gerechtigkeitsüberzeugungen und Beurteilungsstrategien wurde deutlich, dass alle befragten Lehrkräfte über eine spezifische Vorstellung darüber verfügen, was in ihren Augen eine gerechte von einer ungerechten Beurteilung unterscheidet bzw. wie sie eine in ihren Augen gerechte Beurteilung herzustellen versuchen. Es zeigte sich gleichzeitig aber auch, wie schwierig diese Aufgabe zum Teil sein kann und wo Lehrkräfte beispielsweise durch die institutionellen Rahmenbedingungen oder lokale Beurteilungskulturen eingeschränkt oder ganz daran gehindert werden, ihre Vorstellungen einer gerechten Beurteilung umzusetzen. […]
So tendieren die befragten Lehrkräfte aus Schweden und NRW insgesamt betrachtet zu unterschiedlichen Handlungsstrategien und damit verbundenen Gerechtigkeitsüberzeugungen. Die größten Überschneidungen zwischen den beiden Samplegruppen finden sich bei der diskursiv-interaktiven und der prozedural-bürokratischen Gerechtigkeit, die in beiden Ländern gleichermaßen auftritt. Die kompensatorische Gerechtigkeitsüberzeugung hingegen zeigt sich hauptsächlich bei den schwedischen Lehrkräften […] Die mathematisch-rechnerische Gerechtigkeitsüberzeugung wiederum lässt sich nur in Spuren im schwedischen Sample wiederfinden (bzw. wird deutlich abgelehnt), findet bei den nordrhein-westfälischen Lehrkräften jedoch regen Zuspruch.