Sollen Lehrpersonen kreative Arbeiten benoten oder nicht?

Für viele Lehrpersonen, auch für mich, ist der Status Quo: Wir müssen Noten setzen, aber nicht alles benoten, was Schüler*innen machen. Teilweise müssen wir Prüfungen durchführen, können aber auch alternative Leistungsnachweise benoten.

Immer wieder lassen wir Schüler*innen kleinere und größere kreative Aufträge bearbeiten. Beispielsweise gestalten sie ein Poster, sie nehmen einen Podcast auf, halten Notizen als Sketchnote fest, schreiben einen literarischen Text, gestalten ein farbiges Puzzle der Schweiz etc. Dabei stellt sich die Frage: Ist es sinnvoll, solche Aufträge zu benoten – oder sollen sie bewusst nicht benotet werden? Die Frage führt zu einem echten Dilemma, das viele Problematiken der aktuellen Prüfungskultur enthält.

Schweizerkarte als Puzzle, Arbeit von werken.ch

Was spricht für eine Benotung?

In kreativen Arbeiten steckt oft viel Aufwand. Sie erfordern spezifische Skills, die geschult und erweitert werden. Eine Benotung verleiht dem Gewicht, drückt aus, dass auch das, was hinter kreativen Lösungen steckt, Bedeutung hat und eine Leistung ist.

Was spricht gegen eine Benotung?

Was kreativ ist, überschreitet Vorgaben, entzieht sich Vergleichen und Messbarkeit. Kreativ zu arbeiten braucht Mut, Bereitschaft zum Risiko, eine Fehlerkultur. Traditionelle Verankerungen von Bewertungen wie Kriterienlisten oder Vergleiche sind im Umgang mit kreativen Leistungen wenig hilfreich. Wer Kriterien vorgibt, schafft einen Anreiz, diese Kriterien zu erfüllen – und zwar so, wie sie die bewertende Person versteht, nicht eigenständig. Zudem trifft mit Noten eine Norm auf individuelle Arbeiten von Schüler*innen, die ihnen schlicht nicht gerecht werden kann.

Exkurs: Lerndialoge

Wenn Schüler*innen kreativ arbeiten, dann wäre es naheliegend, mit ihnen in ein Gespräch zu treten. Sie zu fragen, worauf sie Wert gelegt haben, womit sie zufrieden sind – ihnen auch zu sagen, was ich als Lehrperson in ihren Arbeiten wahrnehme, welche Frage sich mir gestellt haben. So kann ich oft erfahren, was hinter Arbeiten steckt. Benotungen können solche Dialoge erschweren, weil sofort alles »zählt«, weil Schüler*innen das sagen müssen, was Lehrpersonen hören wollen, um sie wohlwollend zu bewerten.

Das Dilemma und die Bewertungskultur

Kreative Arbeiten finden an Schulen nicht isoliert statt, sondern sind Teil der Leistungs- und Bewertungskultur – auch als Ausnahme, wenn nicht bewertet wird. Das führt zu folgenden Fällen und Perspektiven:

  • Adem hat intensiv an einem Projekt gearbeitet, viel Spaß gehabt und ein herausragendes Ergebnis erzielt. Er fragt: ,Warum wird das nicht bewertet, ich habe mir so viel Mühe gegeben und könnte eine gute Note brauchen?'
  • Beatriz hat einen eigenwilligen Weg eingeschlagen, alles anders gemacht als die anderen. Am Schluss hat das nicht ganz funktioniert, aber sie weiß schon, wie sie das das nächste Mal neu probieren könnte. Sie fragt: ,Warum erhalte ich eine schlechte Note, obwohl ich doch einen völlig eigenen Weg gegangen bin? Sie haben doch gesagt, wir sollen kreativ arbeiten. So verliere ich die Lust, es wäre besser, gar keine Noten zu setzen.'
  • Cem macht das Minimum. Oft schwatzt er oder schaut zum Fenster raus. Er sagt: ,Das Projekt gibt ja eh keine Note, warum soll ich was machen?'
  • Delia leidet unter Prüfungsangst. Wenn sie produktorientiert arbeiten kann, blüht sie auf, sie gibt ihr Bestes. Die guten Noten, die sie dafür erhält, tun ihr gut, sie geben ihr Selbstvertrauen, das sie bei Prüfungen oft verliert.
  • Even rechnet ständig seine Noten aus. Er merkt: Macht er das kreative Projekt so, wie die Lehrerin das möchte, muss der die Französisch-Vokabeln nicht so gut lernen. Er lässt sich von Adem etwas helfen, ohne viel Aufwand erhält er eine gute Note im Projekt.

Die fünf Perspektiven zeigen unterschiedliche Formen des Dilemmas. Alle sind auf die Probleme zurückzuführen, die Bewertungen an sich schaffen: Adem hat keine Freude an seiner Leistung, es sei denn, sie wird bewertet. Beatriz wird für ihren Mut bestraft, Cem hat seine Motivation schon vorher verloren. Delias Selbstvertrauen hängt an ihren Noten, Even hat das System völlig verinnerlicht und arbeitet so, wie es das verlangt.

Und jetzt?

Die Antwort auf die Titelfrage lautet: Kommt darauf an. Auf die Lernenden, die Lehrenden, das Projekt. Es gibt keine richtigen Bewertungen in einem falschen System – diese Grundeinsicht kommt bei mir immer wieder auf. Ich experimentiere mit Bewertungsformen, die alle zu denselben kognitiven Konflikten führen, die alle für einige Schüler*innen besser, für andere schlechter sind. Abwechslung ist wohl die einzige Chance: Ein kreatives Projekt ohne Bewertung, ein weiteres mit. Unfair für die einen Schüler*innen, hilfreich für die anderen.

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