Wenn Eltern schlechte Noten emotional abfedern sollen

Im Netz kursiert immer wieder der folgende Brief, mit dem ein »Schulleitern« Eltern erklärt, wie sie mit den Noten aus »Prüfungen« umgehen sollen. Angeblich soll er in Singapur entstanden sein, die ersten Verweise darauf finden sich 2007. Für mich deutet alles darauf hin, dass der Brief erfunden ist und nie verschickt wurde. Insbesondere dieses Layout ohne Angabe des Schulnamens und des Namens des »Schulleiters« wirkt schräg.

Brief, Quelle: Internet…

Im Folgenden geht es aber nicht um die Echtheit, sondern um die übermittelte Botschaft dieses Briefes. Diese hat drei Teile:

  1. Die Kinder sind für große Aufgaben bestimmt, sie werden »die Welt erobern«.
  2. Einige oder viele Kinder werden schlechte Noten erhalten in den anstehenden Prüfungen.
  3. Die Eltern sollten nett mit den Kindern sein, die schlechte Noten erhalten, weil das eigentlich gar nicht wichtig ist.

Würde mir ein Schulleiter einen solchen Brief schreiben, würde ich zurückfragen, weshalb seine Schule talentierten Kindern schlechte Noten gibt – und weshalb es die Aufgabe der Eltern sein soll, Kinder zu trösten, wenn das passiert.

»rauben sie ihm bitte nicht sein Selbstbewusstsein und seine Würde« ist der Satz, der für mich die Absurdität eines solchen Briefes auf den Punkt bringt – und bei dem ich nicht verstehe, weshalb so viele Menschen den Brief jedes Jahr teilen. Wenn Selbstbewusstsein und Würde für eine Schule wichtig sind, dann muss sie in ihrem Handeln dafür sorgen, dass Kinder und Eltern das spüren. Von Eltern zu verlangen, schlechte Noten emotional abfedern zu müssen, ist Ausdruck davon, dass dieser Schulleiter etwas einfordert, was seine Schule nicht einlösen kann.


Im bald erscheinenden Band zu Prüfungskultur habe ich zusammen mit Dejan Mihajlović darüber geschrieben, wie Kommunikation rund um zeitgemäße Prüfungsformate mit Eltern gelingt:

Geht es darum, Eltern verständlich zu machen, wie alternative Prüfungsformate funktionieren, dann muss davon ausgegangen werden, dass wenige von ihnen mit pädagogischen und didaktischen Fachbegri$en vertraut sind. Eine einfache Sprache, Visualisierungen und nachvollziehbare Beispiele helfen, möglichst allen Eltern einen Zugang zu verschaffen. Darüber hinaus empiehlt es sich, auch an Elternbesuchstagen Prüfungsformate zu thematisieren und vorzuführen. Das ist eine Gelegenheit, um Schüler:innen einzubeziehen: Können Schülerinnen und Schüler klar über schulische Beurteilungsformen sprechen, können sie auch Eltern erklären, wie Prüfungsformate funktionieren und was dabei wichtig ist. Der Sinn der Kommunikation mit den Eltern liegt darin, dass Eltern ihre Kinder unterstützen können, weil sie verstehen, was für schulisches Lernen wichtig ist und wie Beurteilung zustande kommt.

Eltern sind nicht dazu da, emotionale Probleme zu lösen, die schulische Beurteilung verursacht. Sie sind aber wichtige Menschen im Leben von Schülerinnen und Schülern, die ein Recht darauf haben, zu verstehen, wie Noten entstehen und worauf es beim Lernen ankommt.

Der wohl erfundene Schulleiter unseres Briefes spricht Eltern dieses Recht implizit ab.