Sind Noten eine Währung – und was bedeutet das?

Titel aus dem Interview in der Sonntagszeitung

Der Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach hat kürzlich in einem Interview Noten mit Geld verglichen (eine Kopie des Interviews kann man hier ohne Paywall lesen). Die genaue Formulierung lautet wie folgt:

Schule ohne Noten ist wie Kapitalismus ohne Geld. Das funktioniert nicht. Über die Währung kann man streiten, aber es braucht eine Währung. Natürlich sind die Noten problematisch, sie sind insgesamt weder objektiv noch gerecht. Doch zu behaupten, dass die Leistung nicht sinken würde, wenn man auf Noten verzichtet, ist fromm. Diese extrinsischen Motivatoren haben auch dann eine Wirkung, wenn man sie ablehnt.

Der Vergleich ist einerseits richtig – und andererseits auch falsch. Was richtig ist: Noten funktionieren wie eine Währung und Geld im Kapitalismus. Schulen, wie sie heute sind, bereiten Menschen auf den Kapitalismus vor – gemeint ist damit die Umrechnung von Arbeit und Ressourcen in Geld und die Möglichkeit, Arbeit und Ressourcen so von den Menschen zu entfremden, um sie in abstrakten Kontexten verwerten zu können. Kapitalismus ist ein massives Problem, seine Geschichte ist eine Geschichte von Ausbeutung und Entfremdung. Damit Menschen für Geld arbeiten (und nicht etwa für ihre Zufriedenheit oder die Produktion von dem, was sie brauchen), müssen sie zuerst lernen, dass eine Währung wichtiger ist als das, was sie tun und was dabei passiert. Das lernen sie in der Schule, auch über Noten. Insofern hat Reichenbach Recht.

Wo er sich irrt, ist in der Vorstellung, dass Lernen ohne extrinsische Motivatoren nicht funktionieren würden. Falsch ist auch die Vorstellung, Menschen würden ohne diese Motivatoren weniger gut lernen. Ein Axiom zu Anreizen lautet: Jeder Anreiz ist ein Fehlanreiz. Auf die Schule umgemünzt: Für Noten machen Menschen Dinge, die nicht nur falsch sind, sondern ihnen auch Schaden. (Hier kann man leicht Noten und Geld austauschen.)

Wenn Schüler:innen für sich, ihre eigenen Ziele und ihr Wohlbefinden lernen könnten und nicht dem Druck der permanenten Bewertung von aussen ausgesetzt wären, würde dasselbe passieren, was dann passiert, wenn Menschen ihre Grundbedürfnisse befriedigen können, ohne dafür mit Lohnarbeit Geld verdienen zu müssen: Sie werden produktiver und fokussierter. Viele Menschen glauben das nicht, weil sie diese Erfahrung nicht kennen, weil sie sich von finanziellen Anreizen oder externer Bewertung nicht lösen können.

Ich schreibe diese Newsletter, ohne damit Geld zu verdienen. Im Gegenteil: Ich zahle für die Plattform und für die Möglichkeit, die Beiträge werbefrei auszuspielen. Fast jede Woche schreibe ich einen Text, für mich, aber auch für andere. Ich freue mich über die Gespräche, die dadurch entstehen, über das, was ich bewirken kann. Diese Produktivität hätte ich nie, wenn ich das machen würde, um Geld zu verdienen. Ich würde mir Umwege und Abkürzungen überlegen, würde optimieren und einen falschen Eindruck erwecken; würde auch dann schreiben, wenn es mir nicht gut geht oder ich keine Zeit hätte. Meine Leistung würde sinken, wenn ich für die Texte bezahlt oder bewertet würde. Das ist das Gegenteil von dem, was Reichenbach behauptet.

Die Logik der kapitalistischen Verwertung ist ein ideologisches Ungeheuer, das fast alles in sich aufnimmt, was es berührt. Ihr zu widerstehen und sich nicht vereinnahmen zu lassen, ist schwierig und erfordert viel Aufwand. Oft erscheint es so, als sei Kapitalismus alternativlos, als müssten sich auch Schule und andere gesellschaftlichen Systeme seinen Regeln beugen. Müssen sie nicht. Schulen brauchen keine Währung, um zu funktionieren. Sie müssen Lernerfahrungen ermöglichen. Diese tragen ihren Wert in sich selber, sie lohnen sie, weil Menschen erfahren können, wie sie sich entwickeln und wachsen können, was sie bewirken können, wenn sie sich anstrengen. Dafür braucht es keine Entschädigung.

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