Mündliche Mitarbeit bewerten – Probleme und Lösungsansätze

Mündlichnoten oder Noten für mündliche Mitarbeit zeigen verdichtet Probleme auf, die es mit Noten generell gibt. Im folgenden Beitrag werde ich konkret aufzeigen, worin diese Schwierigkeiten bestehen und welche Lösungsansätze verfügbar sind.

Wir gehen von folgenden Annahmen zum Standardvorgehen aus: Eine Lehrperson bewertet im Fachunterricht die mündlichen Leistungen der Schüler:innen und erzeugt so eine oder mehrere Mündlichnoten, die sie mit anderen Noten verrechnet. Sie tut das meist aus drei Gründen:

  1. es ist in vielen Notenreglementen von Schulen oder Verwaltungen so vorgeschrieben
  2. Schüler:innen sollen eine Rückmeldung für ihre mündliche Leistungen erhalten, in dem Sinne, dass sie ihre Kompetenzen einschätzen und verbessern können
  3. Schüler:innen sollen einen Anreiz erhalten, sich an Gesprächen zu beteiligen, statt sich nur auf schriftliche Prüfungen vorzubereiten.

Dieses Standardvorgehen ist mit fünf zentralen Schwierigkeiten verbunden, die im Folgenden ausführlicher diskutiert werden. An wirklich guten Schulen findet sich dieses Vorgehen kaum noch, an ziemlich guten reflektieren Lehrpersonen die Vorgehensweise mit Schüler:innen und setzen die Noten zumindest kriteriengeleitet und transparent. An weniger guten werden Mündlichnoten irgendwie in die Zeugnisnote eingerechnet, ohne dass die Schüler:innen genau mitgeteilt bekommen, wie das passiert ist und was das mit ihrer Leistung zu tun hat.

1. Keine valide und objektive Diagnostik

Lehrpersonen können die Leistungen von Schüler:innen in diesem Setting nicht richtig einschätzen. Das untenstehenden Mindmap versammelt Aspekte, die alle in die mündlichen Leistungen einfliessen (aus: Krumwiede et al.). Wenn man sich nun vorstellt, dass eine Lehrperson ein Klassengespräch mit 20-30 Schüler:innen moderieren sollte, selber Beiträge leisten muss, an der Wandtafel oder einem digitalen Interface dokumentiert, was Schüler:innen sagen – und dann bei allen Lernenden all diese Aspekte so beobachten sollte, dass aussagekräftige, korrekte und faire Rückmeldungen möglich sind, dann wird sofort nachvollziehbar, dass es sich um eine Überforderung handelt.

Patricia Drewes hat das in ihrem Blogpost zum Thema wie folgt formuliert (leicht gekürzt):

Als ausgebildete Lehrkräfte wissen wir, dass unsere Prüfungsformate oft nicht hinreichend den Kriterien der Reliabilität, Objektivität und Validität genügen, und wir kennen die lange Reihe an Messfehlern, die bei der Notengebung passieren. Das Format „mündliche Mitarbeit“ scheint mir besonders fehleranfällig zu sein. Warum, fragt man sich, wo dieses Format doch sowohl in der Unterrichtspraxis eines der beliebtesten (wohl weil unaufwändigsten) und auch in den Verordnungen zur Leistungsbeurteilung einen zentralen Stellenwert hat. Für mich liegt ein zentrales Problem dieses Formats in der hohen Subjektivität der Bewertung. Bei Gruppen von 30 und mehr Schüler:innen neigen Lehrkräfte […] wohl dazu, Schüler:innen, die sich aktiv beteiligen, positiver zu bewerten als Schüler:innen, die stiller oder unsicher sind, selbst wenn sie möglicherweise ein höheres Maß abrufbarer Kompetenzen hätten.

Einsicht 1:
In Unterrichtsgespräch können keine korrekten Mündlichnoten erhoben werden.

2. Zu wenig Zeit für Feedback

Die Einsicht 1 ist zumindest Schüler:innen sehr vertraut, da viele Mündlichnote als verzerrt, oder wie es in Jugendsprache heisst, random empfinden. Der Grund, weshalb sie nicht dazu führt, die Bewertung mündlicher Leistungen zu revidieren oder allgemeiner darauf zu verzichten, liegt darin, dass Lehrpersonen kaum Zeit für Alternativen haben. Fachlehrpersonen unterrichten oft bis zu 10 Klassen pro Woche, einige sogar mehr. Klassenlehrpersonen unterrichten bis zu 10 Fächern. Wie man es dreht und wendet: Um allen Schüler:innen gehaltvolles Feedback zu ihren mündlichen Leistungen geben zu können, bräuchten Lehrpersonen Zeit für Beobachtung, Zeit für Bewertung und Zeit für Rückmeldungen. Sie müssten Schüler:innen zudem einladen, selber über ihre Leistungen zu reflektieren, sich individuelle Ziele zu setzen und diese mit überprüfbaren Kriterien zu messen.

Lehrpersonen nutzen also Mündlichnoten aus Zeitnot, sie sind die minimale Form eines Feedbacks, das, was gerade noch möglich ist – und halt doch nicht alle Aspekte berücksichtigen kann, nicht allen Lernenden gerecht wird, keine Anhaltspunkte zur Verbesserung geben kann.

Einsicht 2:
Lehrpersonen haben zu wenig Zeit, um seriöse Mündlichnoten zu setzen.

3. Fehlanreize & Studenting

Kürzlich habe ich das Portrait eines Gymnasiasten gelesen, der als Unternehmer arbeitet. Er könne seinen Aufwand für Mündlichnoten problemlos optimieren, meinte er, indem er sich zu Beginn jeder Lektion drei Mal melde. Dann habe die Lehrperson den Eindruck, er sei aktiv dabei und gebe ihm eine gute Noten – den Rest der Lektion könne er dann an seinen Projekten arbeiten.

Der Schüler beteiligt sich aufgrund seiner Note am Unterrichtsgespräch. Damit ist er nicht allein. Das bedeutet, dass in vielen Schulzimmern Gespräche geführt werden, in denen nicht die zu Wort kommen, die etwas zu sagen hätten, sondern die, welche möglichst dringend einen guten Eindruck für die Mündlichnote machen möchten. Das ist ein Fehlanreiz und führt zu Verhaltensweisen, die es so nur nicht der Schule gibt: Schüler:innen sagen laut, was ihnen andere zugeflüstert haben, oder sie lesen vor, was ChatGPT formuliert hat. So ergeben sich keine Gespräche, in denen Erkenntnisse entwickelt werden.

Einsicht 3:
Mündlichnoten senken die Qualität von Unterrichtsgesprächen.

4. Schlechte Leistungen

Die mündlichen Kompetenzen von Schüler:innen müssten entwickelt werden. Die Mündlichnoten führen aber dazu, dass Schüler:innen kein ganzheitliches Verständnis von Auftritts- und Sprechkompetenz erwerben, sondern sich auf eine «Beteiligung» beschränken. «Es ist jedoch zu fragen, ob mündliche Kompetenzen so tatsächlich in effektiver Weise gefördert werden», schreibt mein Kollege Stefan Hofer-Krucker Valderrama in einer Workshopausschreibung.

Eine gute Leistung bestünde darin, ganz oft einfach nur zuzuhören und sich nicht einzubringen, wenn man selber das Gespräch nicht voranbringen kann. Stellen Lehrpersonen schlechte Fragen (das sind oft solche, deren Antwort sie schon kennen), müssten Schüler:innen sie darauf aufmerksam machen. Stattdessen verhalten sie sich wie dressierte Delfine und springen durch die Ringe, die man ihnen hinhält, weil sie sich eine Belohnung versprechen. Dabei schrumpft ihre Leistungsfähigkeit und Denkbereitschaft.

Einsicht 4:
Mündlichnoten verführen Schüler:innen zu schlechten Leistungen.

5. Der erzwungene Vergleich

Menschen machen ihre Zufriedenheit und ihr Glück leider zu oft von dem abhängig, was ihre Nachbar:innen besitzen und erleben. Wer mit seinem Job ganz zufrieden ist, wird oft unsicher, wenn die Nachbarin in einem ähnlichen Job befördert wird. Wer sein Auto praktisch und bequem findet, möchte gerne ein teureres, wenn auf dem Parkplatz daneben ein neues Modell steht. Und wer ein Fach interessant findet und immer mal wieder einen Gedanken zu einem Gespräch beisteuert, wird die Freude verlieren, wenn der Banknachbar eine bessere Mündlichnote erhält, obwohl er sich weder fürs Fach interessiert noch sich regelmässig beteiligt.

Schüler:innen, deren mündliche Beteiligung mit einer Note bewertet wird, erstellen innere Ranglisten – oft unbewusst. Sie haben die Erwartung, sicher eine bessere Note als bestimmte Mitschüler:innen zu erhalten. Trifft die Lehrperson diese Note mit ihrer Bewertung nicht, sind sie enttäuscht. Das versuchen Lehrpersonen oft mit Selbsteinschätzung abzufedern, was nicht funktioniert: Je nach Persönlichkeit ist es dann zusätzlich wichtig, dass die Selbsteinschätzung von der Lehrperson nicht nach unten korrigiert wird, weshalb sich viele Schüler:innen zu schlecht einschätzen – während andere unverschämt versuchen, mit einer zu hohen Selbsteinschätzung das Maximum rauszuholen.

Was bieten sich für Lösungen an?

Stefan Hofer-Krucker Valderrama, den ich bereits zitiert habe, hat mit Rémy Kauffmann zusammen ein Buch geschrieben, das in Kürze erscheint. Darin stellen sie eine Methode vor, in der mündliche Beiträge im Unterricht gezielt eingefordert (und auch bewertet) werden können, ohne dass das Teil eines Unterrichtsgesprächs ist. Damit erfüllen sie eine Forderung, die auch Patricia Drewes in ihrem Blogpost aufstellt. Sie fragt:

Wie wäre es, wenn Unterrichtsgespräche und Schüler:innenbeiträge einfach nur integraler Bestandteil des Unterrichts wären, in Hinführung zu einem Problem, als Diskussion eines offenen Problems, als Diagnose-Instrument für Prä-Konzepte und erworbene Kompetenzen, aber bitte kein isoliertes Bewertungskriterium?

Die Arbeit mit Kompetenzrastern geht in dieselbe Richtung. Auch hier braucht es keine Noten aus Unterrichtsgesprächen, sondern Schüler:innen können, in einer Reflexionsphase, Kompetenzen in und nach Gesprächssituationen nachweisen.

Viele der Weiterentwicklungen funktionieren aber nur, wenn Lehrpersonen die nötige Zeit haben, um sich mit den Leistungen der Schüler:innen fundiert auseinanderzusetzen. Das sollte selbstverständlich sein… 

Einsicht 5:
Lehrpersonen sollten Schüler:innen nur bewerten, wenn sie dafür genügend Zeit und diagnostische Daten haben.

…aber ist es in der Praxis nicht, weil Vorschriften Bewertungen auch dann verlangen, wenn die Bedingungen von Einsicht 5 nicht erfüllt sind.

Wer also gezwungen ist, in Unterrichtsgesprächen Noten zu machen, sollte das mit enorm eingeschränkten Kriterien tun. «Hilfreiche Beiträge» könnten etwa ein Minimalkriterium darstellen: Jedes Mal, wenn Schüler:innen sich so beteiligt haben, dass die Lehrperson das als hilfreich wahrgenommen hat, wird das transparent so registriert. Zum Ende des Beurteilungszeitraums wird aus einer Skala eine Note generiert. Selbstverständlich ist das keine sinnvolle Note für die mündliche Beteiligung, weil viele Aspekte aus der obigen Darstellung wegfallen: Da eine solche Noten aber gar nicht erzeugt werden kann, ist es zumindest ein Behelf, der viele andere Probleme reduziert – z.B. eine Scheinbeteiligung, Beurteilungsfehler, abwertende Vergleiche.

P.S.: Eine hilfreiche Lektüre ist auch der Blogpost von Catrin Ingerfeld sowie die erziehungswissenschaftliche Perspektive von Eiko Jürgens in Pädagogik 5/2025.

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