Menschen oder ihre Prüfungen bewerten?
Kürzlich hat eine Kollegin eine anregende Kritik an meinem Vorgehen geäußert, Noten über Kompetenzraster zu erzeugen. Sie meinte:
Wenn du Kompetenzen bewertest, dann bewertest du Menschen, ihr Können. Wenn du Prüfungen bewertest, können Schüler:innen sich davon besser distanzieren – Prüfungen haben nichts mit ihnen zu tun, das sind nur schulische Rituale, bei denen sie sich Mühe geben können oder nicht.
Selbstverständlich könnte ich darauf antworten, dass ich auch nur Lernprodukte als Kompetenznachweise einschätze: Auch meine Schüler:innen haben viele Möglichkeiten, sich der Bewertung zu entziehen und die Kompetenzraster als einen schulischen Zwang anzusehen, der mit ihnen als Person nichts zu tun hat.
Aber das Problem geht wohl tiefer. Wie ich in meinem Buch-Beitrag zusammen mit Lars Mecklenburg festgehalten habe, orientiert sich die traditionelle Prüfungskultur an einem experimentellen Setting, bei dem über Prüfungen Aussagen über kognitive Prozesse der Schüler:innen gewonnen werden. Prüfungen dienen also zumindest in der Theorie auch dazu, Menschen zu beurteilen. Eine Prüfung ist gerade nicht ein belangloses Ritual, bei dem Schüler:innen Dinge tun, die keine Bedeutung haben, um Noten zu generieren. Vielmehr bezieht sich die Prüfung auf Lernprozesse, die als wichtig erachtet werden, und fällt ein Urteil darüber.
Das ist die Systemseite. Auf der Seite der Schüler:innen passiert dasselbe. Sie verbinden die Selbstbeurteilung stark mit ihren Noten, orientieren sich bei der Einschätzung, wo ihre Stärken und Schwächen liegen oft an ihrem Zeugnis. Noten prägen Menschen oft lange über die Schule hinaus, viele Erwachsene erzählen mit vielen Emotionen von Prüfungssituationen oder Beurteilungen durch Lehrpersonen.
Weder das System noch die vom System betroffenen Menschen können also Prüfungen von einer Beurteilung der Menschen, welche sie schreiben, trennen. Prüfungen sind weder so designt noch funktionieren sie psychologisch so. Alle Alternativen sind ebenfalls von diesem Problem betroffen. Menschen verbinden auch die Ergebnisse von absurden Spiele mit ihrem Selbstwert.
Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass wir uns überlegen müssen, wie man in solchen Situationen mit Menschen umgeht. Menschen bewerten ist unmenschlich. Einerseits, weil das immer unfair ist, da nur Ausschnitte eines Menschen der Bewertung zugänglich sind, Menschen immer mehr sind als das, was beurteilt wird. Andererseits, weil Menschen sich entwickeln, weil sie zwar heute vielleicht etwas nicht können, dieses Nicht-Können aber ein Noch-Nicht-Können ist. Menschen lernen ständig.
Gute Formen der Rückmeldung berücksichtigen das. Sie versuchen einzublenden, was Menschen auch noch können, und sie versuchen sichtbar zu machen, dass sie Potenziale haben. Mit anderen Worten: Es handelt sich gerade nicht um Beurteilungen. Die Kritik der Kollegin ist richtig, die Konsequenz daraus ist aber nicht, Kompetenzraster oder andere Instrumente nicht zu verwenden, sondern sie nicht als Formen der Beurteilung zu missbrauchen. Weil wir Menschen nicht beurteilen sollten, sondern ihnen helfen sollten, ihr Potenzial abzurufen.
P.S. Und wer jetzt denkt, in der 'richtigen Welt' laufe das aber nicht so, da würden Menschen durchaus aufgrund ihrer 'Performance' beurteilt, kann sich mal überlegen, ob wir das richtig finden. Und ob das stimmt. Ich finde nämlich, die Performance vieler erfolgreicher Menschen gar nicht so beeindruckend – und doch können sie sich dieser Form der Beurteilung problemlos entziehen, weil sie Geld haben, weil sie Machtdynamiken nutzen etc.