Jeder Anreiz schafft Fehlanreize

Kürzlich war ich Gast in einer Deutschlektion. Die Klasse war ungewöhnlich aktiv beim Beantworten von Fragen im Unterrichtsgespräch: Kaum hatte die Lehrperson fertig geredet, ging die Hälfte der Hände hoch. Nie kamen alle dran, die was beisteuern wollte.

Gleichzeitig entwickelte sich kaum ein Gespräch. Wenn jemand sprach, war eine gewisse Enttäuschung spürbar, die Schüler:innen wiederholten oft, was vor ihnen schon gesagt wurde. Mein Eindruck: Die hörten einander nicht richtig zu.

Etwas später bemerkte ich, dass die Lehrperson jede Wortmeldung (und ihre Qualität) in einer Liste erfasste. Ich gehe davon aus, dass die Liste eine Basis für die Mündlichnote darstellt, welche die Schüler:innen erhalten.

Das ist ein schönes Beispiel für eine Grundeinsicht, die nicht nur Noten betrifft: Sobald man Anreizstrukturen schafft (hier die Mündlichnote, die auf Beiträge in Unterrichtsgesprächen beruht), entstehen Fehlanreize (hier: nicht zuzuhören). Theoretisch lässt sich das einfach erklären: Bestimmte Verhaltensweisen werden durch Anreize verstärkt, weshalb andere, auch wichtige Verhaltensweisen an Bedeutung verlieren. Zeit und Energie fehlen, um diese anderen wichtigen Handlungen ebenfalls bewusst und sorgfältig vorzunehmen.

Praktisch versuchen Lehrpersonen, die Fehlanreize zu korrigieren. Tun sie das mit weiteren Anreizen, passiert dasselbe, nur an einem anderen Ort.

Betrachtet man damit die Notengebung insgesamt, so werden Anreize für Kompetenzen geschaffen, die sich gut prüfen lassen – und der Fehlanreiz besteht darin, dass Kompetenzen entwertet werden, die sich der einfachen Überprüfbarkeit entziehen. Dafür gibt es viele Beispiele:

  • Mathematik:
    gut prüfbare Anreize: Aufgaben schematisch lösen
    schlecht prüfbare Fehlanreize: mathematisches Denken wird entwertet
  • Naturwissenschaften:
    gut prüfbare Anreize: auswendig lernen
    schlecht prüfbare Fehlanreize: vertieftes Verständnis von Zusammenhängen
  • Grammatik:
    gut prüfbare Anreize: Klassifikationen anwenden
    schlecht prüfbare Fehlanreize: Sprachen strukturell vergleichen

Ich könnte die Liste ergänzen. Mein Fazit wäre, so wenig künstliche Anreize wie möglich anbieten, auch wenn das verlockend erscheint. Sie haben Schattenseiten. Lernen und Kompetenzerwerb sind in sich belohnend, sie müssen und sollen nicht verstärkt werden.

Hier folge ich dem Anreiz, Beiträge im Internet mit Bildern zu versehen, damit sie auf digitalen Plattformen attraktiver aussehen. Ein klarer Fehlanreiz.

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