»Man sollte uns lieber Äpfel geben, statt Noten.« – Fritz Kochers Aufsätze
Robert Walser hat 1904 ironische Aufsätze aus der Perspektive der Figur Fritz Kocher geschrieben. Darin reflektiert er eine Reihe philosophischer und existenzieller Fragen, diskutiert aber auch die Funktion von Schule, Lernprozesse sowie die Beziehung zu Lehrpersonen intensiv.
Im Aufsatz mit dem Titel »Der Herbst« gibt es zwei Abschnitte, in denen Bewertung und Noten zum Thema werden. Fritz Kocher schreibt:
Ich habe es nötig, mich im Stil zu verbessern. Letztes Mal bekam ich die Note: Stil erbärmlich. Ich gräme mich darüber, aber ich kann es nicht ändern. […]
Habe ich nun aber auch genügend vom Herbst gesprochen? Ich habe viel vom Schnee gefaselt. Das wird eine schöne Note ins Zeugnis geben, dieses Quartal. Noten sind eine dumme Einrichtung. Im Singen habe ich die Note eins und ich singe doch keinen Ton. Wie kommt das? Man sollte uns lieber Äpfel geben, statt Noten. Aber da würden schließlich doch zu viel Äpfel verteilt werden müssen. Ach!
Das Spiel mit denen Ebenen (Kocher wechselt ständig auf die Meta-Ebene und schreibt über das Schreiben, über die Funktion von Aufsätzen – während er einen Aufsatz schreibt) zeigt hier grundsätzliche Einsichten über Noten und Bewertung:
- Sie sind gelöst von den tatsächlichen Leistungen (Kocher kann nicht singen, hat aber eine gute Note; er schreibt einen Text, den wir als literarisches Produkt lesen, macht sich aber Sorgen um seine Note).
- Noten belasten Kocher, er »grämt sich«, kann aber nichts dagegen tun, weil er erstens nicht kontrollieren kann, wie sie entstehen (in einem anderen Aufsatz mutmaßt er, er müsste eine gute Note für diesen Text erhalten) und er zweitens nichts an seinem Schreibprozess oder Text ändern kann, er schreibt ihn ohne Rücksicht auf Kriterien – gerade das macht ihn so gut.
- Noten haben keinen klaren Wert für Kocher, er möchte sie deshalb mit Äpfeln ersetzen, die man essen könnte. Hier zeigt Walser, dass er die psychologische Wirkung von Noten präzise versteht, dass Noten ein Anreizsystem darstellen, das auch dann wirkt, wenn es nicht mit echten Formen von Belohnung oder Strafe verbunden ist. Noten sind symbolisch. Ein System mit Äpfeln würde Schüler:innen etwas geben, was einen Wert für sie hat. Noten haben den eigentlich nicht.
- Eine Änderung ist nicht möglich, es fehlt im System an Ressourcen, um Noten zu ersetzen. So viele Äpfel, wie die Schüler:innen für ihre Arbeiten erhalten müssen, hat die Schule nicht.
Der kurze Ausschnitt ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Einsicht in die Problematik von Noten und die Kritik daran eine lange und reiche Geschichte haben. Und er liefert auch die Antwort, weshalb es nicht möglich ist, diese Kritik so zu berücksichtigen, dass sie verschwindet: Noten halten ein System am Leben, in dem die Zeit für echte Gespräche, etwas Betreuung, echtes Lernen fehlt.
(Für den Hinweis auf den Textausschnitt danke ich Martina Wernli.)