Es gibt kein notenfreies Lernen in einer Notenschule. Es gibt kein bewertungsfreies Lernen in einer kapitalistischen Gesellschaft.

Die letzten zwei Tage war ich an einer Retraite meiner Schule. Wir haben intensiv über Pool-Gefässe geredet: Das sind Formate, in denen die Schüler:innen selbstorientiert, projektbasiert und fachübergreifend so lernen können, dass sie vom Hamsterrad des Stundenplans befreit sind.

Wir haben mit Schüler:innen über diese Formate gesprochen und sie gefragt, was sie motiviert, was ihnen beim Lernen hilft. In den ersten Sätzen kamen die Schüler:innen in meinen Gruppen alle auf Noten zu sprechen: Die Pool-Projekte seien gut, wenn sie ihnen helfen, gute Noten zu erreichen; problematisch sei, wenn sie mit »unmotivierten« Kolleg:innen in einer Gruppe seien, weil die ihnen nicht helfen könnten, Projekte zu erarbeiten, die gut bewertet würden.

Freude am Lernen oder an den Ergebnissen war als Thema kaum präsent. Die Schüler:innen denken Schule vollständig im Modus von Aufträgen von Lehrpersonen, die sie erfüllen müssen, um gute Noten zu erhalten – auch in den Gefässen, wo notenfreies, selbstbestimmtes Lernen denkbar wäre.

Mein Fazit war: Solange Schule mit Noten arbeitet und Leistungen in Zahlen umgerechnet werden, ist jedes Lernen auch davon bestimmt. Es kann allenfalls ein Gegensatz darstellen. Meine Weigerung, Leistungen von Schüler:innen zu benoten, ist eine Irritation, ein Denkanstoß – aber keine wirkliche Veränderung, wenn die Schule selbst nicht generell auf Noten verzichten kann.

Ein ähnlicher Gedankengang – dass der Rahmen das bestimmt, was innerhalb passiert – betrifft die kapitalistische Gesellschaft. Noten sind ein Mittel, um die kapitalistische Ideologie zu vermitteln: Menschen denken nicht grundsätzlich, dass Arbeit, Leistung oder auch Güter bewertet und in Geld umgewandelt werden. Sie müssen das lernen. Dieses Lernen ist so gut organisiert, dass fast alle Erwachsenen das für selbstverständlich halten. Sie empfinden es als natürlich, dass sie für Arbeit bezahlt werden, bilden sich ein, dass Güter gehandelt werden sollten und nehmen ihre Motivation als von Geld gesteuert wahr. Das prägt auch die Schule: Viele Menschen finden Noten wichtig, weil auch im Alltag alles bewertet würde. Das stimmt in Bezug auf Lernen und Arbeiten auf eine ganz spezifische Weise nicht (Erwachsene erhalten gerade keine Noten), aber irgendwie halt doch: Arbeit wird mit Lohn entschädigt, drumherum ergibt sich ein seltsames Gemisch von Vergleichen, Tabus und gesellschaftliche Hierarchien. Wenn es selbstverständlich sein soll, dass Schule ohne Noten funktioniert, müssten Menschen das kapitalistische Denken zurückweisen und andere Formen der Güterverteilung und der Arbeit verwenden.

Kurz: Notenfreies Lernen funktioniert in einer Notenschule nicht wirklich. Und eine notenfreie Schule funktioniert in einer kapitalistischen Gesellschaft nicht wirklich. Ungrading ist ein Prozess, der auch utopisches Denken braucht und auf Utopien hinarbeitet. Der Verzicht auf Noten ist keine einfache Lösung eines konkreten Problems, sondern ein Teil eines langfristigen Projekts, an dessen Ende das Ende des Kapitalismus stehen muss.

(Heute ist mein Geburtstag, ich werde 47. Was ich mir wünschen würde: Leitet doch den Text an jemanden weiter, die oder der ihn gern lesen könnte.)

Wir haben auch Dominos aufgebaut…