Eine toxische Praxis: Noten online veröffentlichen
Kürzlich bin ich auf Instagram auf ein Video der Schweizer Influencerin X._Agnes gestossen. Im Video schaut sie sich die Chemie-Note ihrer Schwester Eva an, die ein Gymnasium in Zürich besucht. Die Note wurde im Intranet der Schule eingetragen – die Schüler:innen können sie einsehen, bevor sie die Prüfung zurückbekommen:
Das Video zeigt eine ganze Breite von Emotionen und Erwartungen. Die Note ist 4.1 (in der Schweiz ist das genügend, 6 ist die beste Note, in Fächern wie Chemie ist 4.1 in der Regel eine Note nahe am Median der Klasse).
Eva muss erst raten, sie schlägt 4.2 und 4.0 vor. Es wird deutlich, dass die tatsächliche Note, die in der Nähe liegt, für sie eine Enttäuschung ist. Sie habe wenig geschlafen um zu lernen, sich sehr angestrengt und habe sich vor der Prüfung ausnahmsweise ein Frühstück gekauft, um eine gute Prüfung zu schreiben. Die 4.1 enttäuscht sie, weil ihr Schnitt vorher besser war.
Im ganzen Video sind viele Emotionen zu sehen. Agnes nutzt die Situation der Notenrückgabe aus, um ihr Zielpublikum, das sich einfühlen kann, abzuholen. Auffällig ist, dass es im Video weder um Lernprozesse noch um chemische Inhalte geht. All die Emotionen hängen mit Erwartungen und leeren Leistungsnormen zusammen. Die Note ist nicht verständlich, Eva kann nicht nachvollziehen, warum ihre Note eine 4.1 ist, zumal sie ein gutes Gefühl gehabt hat.
Was hier zu sehen ist, ist die Rückseite eine toxischen Praxis, die sich an vielen Schulen eingeschlichen hat. Seit es möglich und an vielen Schulen sogar erforderlich ist, Noten in Online-Tools zu dokumentieren, publizieren Lehrpersonen sie dort unabhängig von ihrem Unterricht. Der Moment der Einsichtnahme in die Note ist damit entkoppelt vom Moment der Prüfungsbesprechung. Die Note und die Prüfung werden damit völlig von einer Lernsituation gelöst, es handelt sich in keiner Hinsicht um eine Lerndiagnose, sondern ein Zahlenurteil wird über Personen so gefällt, dass es völlig vom eigentlich Sinn entfremdet ist. Schüler:innen werden mit ihren Emotionen allein gelassen, was schon allein deshalb enorm problematisch ist, weil Lehrpersonen zahlreiche Fehler beim Korrigieren und Bewerten von Arbeiten machen. Zudem kann aber die Anstrengung nicht gewürdigt werden, eine menschliche Rahmung der Notensprache fehlt. Es gibt keinen Trost, keine Erklärung, eine Hoffnung oder Perspektive. Die Note ist wie die Zahl der Likes unter einem Video, wie eine unerwartete oder unerwünschte Nachricht auf einer digitalen Plattform, nur noch mal reduzierter.
Das Video zeigt, wie unmöglich die Situation von Agnes ist: Ihr Trost besteht aus der hohlen Phrase, eine 4.1 sei doch genügend, obwohl sie genau merkt, dass ihre Schwester enttäuscht ist. Sie kann nichts tun, um ihr zu erklären, weshalb die Note so ist, sie kann auf keine Stärke von Eva verweisen oder sich sonst irgendwie sachlich äussern. Die Abstraktion der Note erfasst also auch die Eltern, die in vielen Fällen auch gute Noten erwarten und Jugendliche dann in eine Erklärungsnot bringen, die allein durch die Situation geschaffen wird: Wie sollen sie Eltern eine ungenügende Note erklären, wenn sie die Prüfung nicht zurückerhalten haben?
Lehrpersonen geben Noten oft auch dann auf digitalen Wegen zurück, wenn Schulleitungen das explizit verbieten. Das hat einige Gründe, die durchaus verständlich sind – wenn ich die Praxis als toxisch bezeichne, meine ich damit nicht die Lehrpersonen, die sie anwenden. Sie agieren oft mit guten Absichten, nur gibt es halt keine richtigen Handlungen in einer falschen Prüfungskultur. Folgende Überlegungen bringen Lehrende dazu, so zu agieren:
- Schüler:innen wünschen sich oft explizit, Noten möglichst schnell zu erhalten.
- Die Bewältigung der mit Noten verbundenen Emotionen erschwert oft eine Auseinandersetzung mit den Inhalten einer Prüfung. Wenn die Emotionen vor der Besprechung verarbeitet werden, kann in der Lektion fokussierter gearbeitet werden.
- Lehrpersonen stehen in einem Rollenkonflikt, sie unterstützen und begleitende Lernende einerseits, bewerten und verletzen sie aber andererseits. Wenn die zweite Rolle ins Netz verlagert wird, agieren sie wie Menschen, die Unangenehmes per WhatsApp-Nachricht mitteilen und im Face-to-Face-Kontakt so tun, als sei alles gut.
- Oft fehlen Schüler:innen bei Prüfungen, weil ihnen das eingebildete oder echte Vorteile verschafft. Dann müssen Lehrpersonen Nachprüfungen durchführen und können die Prüfungen oft wochenlang nicht zurückgeben, weil sonst die Fehlenden die echte Prüfung studieren könnten, was ihnen auch dann einen Vorteil verschafft, wenn die Nachprüfung stark davon abweicht. Aus Fairnessgründen warten die Lehrpersonen, wollen aber die Noten in einem Moment kommunizieren, wo die Prüfung noch im Gedächtnis der Lernenden ist.
Kurzfristig können Schulen und Verantwortliche nur etwas tun: Immer wieder die Norm betonen, dass Noten nur kommuniziert werden dürfen, wenn Schüler:innen Einsicht in die Prüfung haben. Die vier erwähnten Punkte müssen anders gelöst werden, egal wie. Noten müssen in einem Zusammenhang mit geschriebenen Arbeiten stehen. Diese Norm muss auch Schüler:innen klar sein, sie müssen gar nicht erst fragen, ob eine Abweichung möglich ist.
Mittelfristig müssen wir aufhören, Schüler:innen so zu prüfen und so zu bewerten. 4.1 in Chemie sagt weder etwas über Evas Anstrengung noch über ihre Kompetenz aus, es ist nur eine Enttäuschung für eine Schülerin, die sich Mühe gegeben hat. Lernende so enttäuschen zu müssen, bringt nichts. Das führt zu unguten Gefühlen bei Lehrenden und Lernenden, zu toxischen Verhaltensweisen an allen Orten – und zu solchen Videos. Unterricht geht problemlos ohne Note und ohne Bewertungen. Wohlwollendes Feedback reicht völlig aus.