Individualisierung und Bewertung

Guter Unterricht bietet Schüler*innen indvidualisierte Lernmöglichkeiten. Pädagogisch verkürzt ist die Idee dabei, dass alle Lernaktivitäten ausüben können, die für sie lernwirksam sind. Da Kinder in Klassen sich unterschiedlich entwickeln, müssen sie auch unterschiedlich lernen.

Dieser Grundeinsicht kann das Bildungssystem auf zwei Arten begegnen: Durch äußere Differenzierung (indem möglichst ähnliche Lernende in dieselben Klassen/Schulen eingeteilt werden) und durch Binnendifferenzierung (indem Schüler*innen in einer Klasse unterschiedliche Lernanregungen erhalten).

Äußere Differenzierung funktioniert nicht: Sie reduziert die Chancengleichheit, führt aber nicht zu besseren Leistungen (vgl. Felouzis/Charmillon 2017). Binnendifferenzierung funktioniert gut, erfordert aber von Lehrkräften die Bereitschaft, die entsprechende Rolle einzunehmen – also nicht die Aufmerksamkeit aller Schüler*innen auf denselben Reiz zu fokussieren, sondern unterschiedliche Lernaktivitäten gleichzeitig zu orchestrieren.

Betrachten wir von dieser basalen Einsicht aus Prüfungen, dann ergeben sich zwei Einsichten:

  1. Äußere Differenzierung braucht Prüfungen, um Selektionsentscheidungen zu legitimieren. Sie muss davon ausgehen, dass Einteilungen eine Art objektive Grundlage haben, obwohl das nicht so ist. Noten stellen diese scheinbar objektive Grundlage her, sie erzeugen sie. Markus Zürcher schreibt in einem neu erschienen Essay zu den Auswirkungen der Selektion: »Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass […] Potenziale und Kapazitäten nicht erkannt oder früh abgewürgt werden«. Das ist ein Effekt von Prüfungen, die sich nicht auf Potenziale oder Kapazitäten beziehen können, sondern standardisierte Aufgaben vorlegen.
  2. Innere Differenzierung kann keine klassischen Prüfungen durchführen, weil es keine Vergleichbarkeit mehr gibt. Alle haben an etwas anderen gearbeitet, weshalb sollten sie verglichen werden? So betrachtet, verlieren Prüfungen ihren Sinn, sie beziehen ihn nur aus der Notwendigkeit einer äußeren Differenzierung. Selbstverständlich kann es auch bei innerer Differenzierung sowas wie Leistungsnachweise oder Atteste für bestimmte Kompetenzen geben (»Du hast gezeigt, dass du X jetzt kannst.«). Aber Noten und Prüfungen braucht es dazu nicht.

Heute gibt es einen Lektürehinweis: »Fördern statt selektionieren« bringt viele der in diesem Newsletter diskutierten Aspekte auf den Punkt. Die Schrift von Markus Zürcher ist als pdf kostenlos verfügbar.

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