Das Problem der Prüfungsselektivität

Die Grafik zeigt ein Problem, das ich Prüfungsselektivität nennen möchte. Es beginnt in Schulen, sobald Prüfungen und Noten die Lernerfahrung prägen – und hält sich oft bis in Weiterbildungen oder Hochschul-Veranstaltungen. Lernende gestalten ihre Lernwege entlang von Prüfungen. Sie investieren Lernzeit und Energie in Aufgaben, die denen von Prüfungen entsprechen. «Ist das prüfungsrelevant?», ist die Frage, die diesem Fokus Ausdruck verleiht. Gleichzeitig ignorieren Lernende andere Arbeits- und Lernformen, wenn die Wahrscheinlichkeit klein ist, dass diese geprüft werden.
Das ist der Grund, weshalb das ein Problem ist: Schüler:innen verpassen für ihren Lernfortschritt wertvolle Gelegenheiten für Kollaboration, Reflexion oder Arbeit an offenen Problemstellung, weil diese selten geprüft werden (vgl. das Straßenlampen-Problem). Oft bereiten sie sich sogar während freieren Arbeitsphasen im Fach 1 auf die Prüfung im Fach 2 vor.
Die totalitäre Reaktion
Lehrpersonen reagieren oft so darauf, dass sie das, was geprüft wird, maximieren. Das zeigt die folgende Darstellung:

Sie führen also Beispielsweise unangekündigte Tests durch, bewerten die Teilnahme an Unterrichtsgesprächen, die Erledigung der Hausaufgaben, kündigen an, dass «alles» an der Prüfung kommen könne etc. Das tun sie, um Schüler:innen zu einer Mitarbeit zu zwingen.
So erhöhen sie den Druck und die Belastung für die Schüler:innen, lösen das Problem aber nicht: Sobald es Freiräume gibt, fokussieren die Schüler:innen gleichwohl auf das, was für die Prüfung wichtig ist. Sie betreiben Studenting, übernehmen Notizen von anderen Schüler:innen, setzen KI ein etc. Die Ausdehnung von Prüfungssituationen ist systemisch gesehen keine Lösung, sondern kann für einzelne Lehrpersonen möglich machen, dass sie weniger von Prüfungsselektivität betroffen sind.
Die sinnvolle Reaktion

Wie ich schon mehrmals beschrieben habe, führe ich in meinem Fachunterricht keine Prüfungen mehr durch. Schüler:innen arbeiten immer noch selektiv, ich versuche das aber nicht zu stören bzw. differenziere nicht zwischen Lernphasen, die für die Prüfung wichtig sind– und solchen, die weniger Bedeutung haben.
Mein Fach ist so der «weakest link». Wenn Schüler:innen Zeit oder Energie sparen wollen, können sie das in meinem Fach ohne grosse Konsequenzen tun. Das ist nicht Resignation, sondern eine Einladung an Kolleg:innen, es mir gleichzutun. Wenn wir nämlich nicht so tun, als würde in Prüfungen das Wichtige, in nicht-prüfungsrelevanten Unterrichtsphasen das Unwichtige abgehandelt, dann würde sich die Prüfungsselektivität auflösen. Das zeigt die letzte Darstellung – der Fokus wäre breiter, ganzheitlicher. Und vielleicht auch stärker auf das bezogen, was Schüler:innen interessiert und weiterbringt.
