Das Problem der Nachteilsausgleiche
Wenn Schülerinnen und Schüler, die das Potenzial haben, die Lern- oder Kompetenzziele […] gemäss Lehrplan zu erreichen, aufgrund einer diagnostizierten Behinderung in ihrer Leistungsfähigkeit beeinträchtigt sind, soll einer Diskriminierung vorgebeugt und mit geeigneten Massnahmen ein Ausgleich der behinderungsbedingten Nachteile angestrebt werden.
Diese Definition des Nachteilsausgleichs findet sich in einer Broschüre des Kantons Zürich. Sie ist stark mit schulischer Beurteilung verbunden, weil Nachteilsausgleiche sicherstellen sollen, dass Schüler:innen mit Behinderungen durch die Notengebung nicht diskriminiert werden. Der Begriff der Behinderung wird dabei meist weit gefasst, auch Teilleistungsschwächen und Aufmerksamkeitsstörungen werden als Behinderung bezeichnet.
Grundsätzlich ist aber folgende Unterscheidung relevant: Schüler:innen haben ein Potenzial, bestimmte Kompetenzen zu entwickeln. Sie sind als beispielsweise kognitiv in der Lage, eine Fremdsprache auf Niveau B2 zu beherrschen. Durch ihre Behinderung können sie diese Kompetenzen aber nur eingeschränkt nachweisen. Im Beispiel der Fremdsprache könnte eine Lese-Rechtschreib-Störung jemanden daran hindern, Wörter in dieser Fremdsprache korrekt zu schreiben oder komplexere Zusammenhänge aus schriftlichen Texten zu erschließen – die Kompetenzen liegen aber deshalb vor, weil es in Bezug auf die Aussprache der Wörter oder das Verständnis von Hörtexten keine Beschränkungen gibt.
Die Unterscheidung geht davon aus, dass Potenziale und Kompetenzen von ihren Nachweisen grundsätzlich unabhängig sind. Nachteilsausgleichsmassnahmen beseitigen deshalb lediglich Formen der Diskriminierung, welche Prüfungsmodalitäten betreffen. Um beim Beispiel zu bleiben: Wenn jemand kognitiv nicht in der Lage ist, eine Fremdsprache auf B2-Niveau zu lernen, dann ist das zwar auch ein Nachteil, der aber über eine Nachteilsausgleichsmassnahme nicht beseitigt werden kann, weil hier das erforderliche Potenzial zum Kompetenzerwerb nicht gegeben ist.
Soweit die Konzeption. Damit gibt es aus meiner Sicht mehrere Schwierigkeiten, die ich kurz diskutieren möchte:
- In der vorherrschenden Prüfungs- und Beurteilungskultur können Lehrpersonen das Potenzial nicht unabhängig von seinen Nachweisen einschätzen. Auch in Arbeitsformen im Unterricht sind bestimmten Formen des Nachweises dominant. Schüler:innen könnten vielleicht in Interaktionen mit kompetenten Sprecher:innen einer Fremdsprache schnell Fortschritte machen, lernen die Sprache im Klassenverband mit dem vorgegebenen Lehrmittel aber kaum. In diesem Fall tendieren Lehrerende dazu, Schüler:innen das Potenzial abzusprechen. Kurz: Nachteilsausgleichsmassnahmen dürften sich nicht auf Prüfungen beschränken, sondern müssten weitreichendere Massnahmen erlauben, wenn sie Benachteiligungen beseitigen sollten.
- Nachteilsausgleichsmassnahmen erfordern – zumindest im Kanton Zürich – aufwändige Gutachten. Gebildete und gut beratene Eltern können diese Gutachten rechtzeitig einfordern und einreichen, andere nicht. Die Nachteilsausgleichsmassnahmen werden nicht einheitlich vergeben, sondern selektiv. Sie sind also nicht eine Massnahme gegen Benachteiligung, sondern ein Privileg für bestimmte Schüler:innen mit einer Behinderung. Ein faires System würde alle Schüler:innen auf Staatskosten abklären lassen und ihnen dieselben Möglichkeiten für Nachteilsausgleiche gewähren.
- Nachteilsausgleichsmassnahmen beschränken sich auf das, was Schulen und Lehrpersonen mit den bestehenden Ressourcen möglich machen können. Viele Schüler:innen erhalten so nicht die optimalen Angebote, sondern die realistischen. So beschränken sich viele Nachteilsausgleichsmassnahmen im Kanton Zürich auf Zeitzuschläge bei Prüfungen und freie Platzwahl im Unterricht. Gerade Schüler:innen mit AD(H)S hilft es aber oft nicht, wenn sie mehr Zeit für eine Prüfung bekommen.
- Nachteilsausgleichsmassnahmen können oft nicht rückwirkend eingefordert werden. Das ist aus der Perspektive der Prüfungskultur zwar nachvollziehbar, weil nicht abgeschätzt werden kann, wie Prüfungsleistungen unter anderen Umständen ausgefallen wären – aber unfair, weil in dem Moment, in dem eine Behinderung diagnostiziert wird, eine neue Situation auftritt, welche auch Selektionsentscheidungen in der Vergangenheit beeinflussen. Wenn also eine Schülerin die Diagnose für eine schwerwiegende LRS erhält, dann dürfte es sinnvoll sein, die Noten in den Sprachfächern auch rückwirkend kritisch zu prüfen.
- Diagnosen sind nicht binär, sondern weisen oft nach, dass Schüler:innen sich auf einem Spektrum befinden. Die Grenzen sind fliessend, werden von unterschiedlichen Diagnoseersteller:innen unterschiedlich interpretiert. Viele Schüler:innen bräuchten bestimmte Formen von Nachteilsausgleiche, aber nur, wer eine bestimmte Schwelle überschreitet, hat rechtlichen Anspruch darauf.
Das Problem der Nachteilsausgleiche lässt sich kompakt formulieren: Noten und Prüfungen gehen in der aktuellen fälschlicherweise davon aus, dass alle Schüler:innen unter ähnlichen Umständen dieselben Leistungen erbringen können. Das stimmt aber nicht: Optimale Leistungen erbringen Menschen unter individuellen Bedingungen. Die Idee eines Nachteilsausgleichs orientiert sich an dieser Einsicht, setzt sie aber unvollständig um: Sie beschränkt sich auf das, was als Behinderung gelten kann; erfordert eine abstrakte Einschätzung eines «Potenzials», die praktisch kaum je seriös vorgenommen werden kann (Gutachter:innen setzen dafür verschiedene Intelligenztests ein) und orientiert sich bei möglichen Massnahmen an dem, was Schulen mit vernünftigem Aufwand anbieten können (statt an dem, was Schüler:innen brauchen, um eine optimale Leistung zu erbringen).
Meine Forderung wäre, dass vor Selektionsentscheiden alle Schüler:innen auf gängige Formen von Behinderungen oder Störungen abgeklärt werden, es sei denn, ihre Eltern wollen das nicht (also insbesondere LRS und AD(H)S). Das wäre einfach umsetzbar und würde verhindern, dass es einen Einfluss hat, ob Eltern das System verstehen und rechtzeitig Gutachten einholen können.