Das Korrektur-Problem: Wie Lehrpersonen versuchen, Beurteilungen zu objektivieren und zu verschärfen

Letzte Woche habe ich in einer Weiterbildung und auf meinem Blog gezeigt, wie man mit KI-Tools Texte automatisch korrigieren kann. Das mag teilweise noch nicht ganz so funktionieren, wie sich das alle wünschen – grundsätzlich entstehen aber genaue und hilfreiche Korrekturen. Sie könnten Lehrpersonen entlasten: Brauchen sie keine Arbeitszeit fürs Korrigieren mehr, dann können sie diese in andere Aufgaben investieren, insbesondere hilft ihnen das, persönliches Feedback zu geben.

Diese Überlegung können nicht alle Lehrpersonen annehmen, teilweise auch aus verständlichen formalen Gründen: Sie brauchen Korrekturen, um nachweisen zu können, dass ihre Bewertungen stimmen. Das verweist auf ein tiefer liegendes Problem, das ich im heutigen Newsletter etwas ausführen möchte.

Rückmeldungen an Schüler*innen bestehen grundsätzlich aus drei Teilen.

Teil 1: Produktives Feedback

Wenn wir mit anderen Menschen zusammenarbeiten, dann bearbeiten wir Aufgaben und sie tun das auch. Wir prüfen diese Bearbeitungen und geben Rückmeldungen, nehmen Korrekturen vor. Wir orientieren uns an einem Ziel, überlegen, wie Produkte aussehen müssen, damit sie uns nützen. Ich würde dem »produktives Feedback« sagen. In der Schule bezieht es sich nicht nur auf ein gemeinsames Ziel, sondern auch aufs individuelle Lernen der Schüler*innen. Lehrpersonen geben Hinweise, was Lernende tun müssen, um Fortschritte zu erzielen.

Teil 2: Menschliche Reaktionen

Wir reagieren auf die Arbeit anderer Menschen aber auch emotional. Wir bemerken zum Beispiel, dass sich jemand sehr anstrengt, aber mit den Ergebnissen der Arbeit nicht zufrieden ist. Oder wir finden, eine Person mache immer wieder denselben Fehler, was alle anderen vor Probleme stellt. Dann reagieren wir nicht auf das Arbeitsprodukt, sondern auf die dahinter stehenden Absichten. Wir machen jemandem Mut, drücken unsere Verstimmung auf, fordern mehr Einsatz oder Sorgfalt etc.: Mit menschlichen Reaktionen drücken wir Wertschätzung und Kritik aus.

Teil 3: Objektivierung

Wenn wir Urteile so vornehmen müssen, dass sie für andere überzeugend sind und auch juristischen Kriterien genügen, dann verwenden wir Techniken, um sie objektiv erscheinen zu lassen. Wir setzen etwa Kriterienraster ein (hier meine Kritik an diesem Vorgehen), markieren und zählen Fehler, erstellen Musterlösungen und verweisen auf Abweichungen davon etc.

Korrekturen sind nun oft Elemente dieses Objektivierungsprozesses. Das bedeutet, dass sie nicht konstruktiv sind und im Sinne von Teil 1 helfen, Lernprodukte zu verbessern – und sie sind auch nicht authentischer Ausdruck einer Reaktion auf die Leistung einer anderen Person. Diese Objektivierung ist ein unmögliches Vorgehen: Sobald wir versuchen, Raster zu entwickeln, stellen sich neue Fragen. Markieren und zählen wir etwa Fehler, stellt sich sofort die Frage, ob jeder Fehler den gleichen Wert hat. Zählen Wiederholungsfehler – bzw. warum eigentlich nicht? Sind Kommafehler halb so schlimm wie Orthografiefehler, oder schlimmer? Gibt es Flüchtigkeitsfehler? Ist ein Fehler weniger schlimm, wenn er das Verständnis einer Formulierung nicht gefährdet?

Diese Überlegungen zeigen, dass am Schluss immer willkürliche Überlegungen stehen, die von Person zu Person anders ausfallen. Selbstverständlich könnte man sowas auch zentral normieren und über eine Konvention festlegen, welche Fehler welches Gewicht haben. Das Problem bleibt aber: Bewertungen menschlicher Arbeit sind nicht objektiv, wir können nur so tun, als wären sie es.

Wenn wir nun viel Energie in Teil 3 investieren, ziehen wir die Aufmerksamkeit von den Teilen 1 und 2 ab. Wir schränken der Raum für produktives Feedback und menschliche Kritik ein. Das ist der Kern des Korrekturproblems: Sprachlehrpersonen haben pro Text 20 Minuten Zeit für eine Rückmeldung und wenden davon 15 dafür auf, den Text zu korrigieren, Fehler zu zählen und diese in eine Note umzuwandeln.

Noch problematischer ist, dass Lehrpersonen oft unterschiedliche Maßstäbe an Arbeiten von Schüler*innen anlegen, die davon abhängen, wie einfach objektivierbar etwas ist. So bewerten sie Vorträge und Projektarbeiten oft wohlwollender als Grammatikprüfungen oder Diktate. Das hängt nicht damit zusammen, dass die eine Arbeitsform leichter wäre als die andere, sondern damit, dass es für Lehrpersonen aufwändiger ist, Formen der Objektivierung ihres Urteils zu finden. Der Ausweg ist eine milde Beurteilung bei den Arbeiten, wo harte Zahlen und Rotstift-Markierungen fehlen.

Nur wenn wir uns von Beurteilungen lösen, verschwinden diese Probleme. Alle alternativen Beurteilungsformen enthalten sie in einer Variation.

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