Das doppelte Problem schulischer Urteile

Wer Urteile fällen muss, hat mit einem doppelten Problem zu kämpfen:

  1. Woher stammt die Legitimation für das Urteilen?
    Warum darf ich ein Urteil fällen? Woher kommt die Sicherheit, dass ich richtige Urteile fällen kann?
  2. Kann ich die Auswirkungen der Urteile verantworten?
    Was passiert mit den Menschen, die von meinen Urteilen profitieren oder darunter leiden?

Wir können das leicht am Beispiel einer Richterin zeigen, die einen Fall beurteilt und eine Angeklagte freispricht. Sie weiß rund um den Fall vieles, aber längst nicht alles; auch ihre Kenntnisse der Gesetze und ihrer Interpretationen sind nicht völlig lückenlos und verzerrungsfrei. Dennoch muss sie urteilen. Der Freispruch kann dazu führen, dass unerwünschte Effekte eintreten, welche die Richterin nicht absehen kann – die aber dennoch auf ihr Urteil zurückzuführen sind. Die Verurteilung und die damit verbundene Strafe kann eine falsche Person treffen oder unerwünschte Effekte haben.

Die Richterin darf urteilen, weil sie gewählt oder ernannt wurde. Sie ist in vielen Fällen qualifiziert, weil sie Erfahrung hat, die Gesetze kennt und Rechtswissenschaften studiert hat. Ihre Urteile stehen im Kontext des Rechtsstaats, sie urteilt und straft nicht als Person, sondern als Vertreterin des Gesetzes und der Demokratie.

Übertragen wir das auf die Schule, dann können wir uns fragen, woher wir als Lehrpersonen die Legitimation nehmen, Arbeiten von Schüler*innen zu beurteilen – und wie wir die Auswirkungen dieser Beurteilung verantworten können. Kürzlich ist mir klar geworden, dass Noten und Kriterienraster oft aus Angst herangezogen werden, dass diese Fragen gestellt werden. Wenn Schüler*innen nicht versetzt werden, reicht ein Hinweis auf errechnete Noten, um das zu begründen. Niemand muss dafür die Verantwortung übernehmen, die Zahlen geben den Ausschlag, nicht menschliche Urteile. Ganz ähnlich wie eine Richterin, die auf die Gesetze verweist, können sich Lehrpersonen hinter diesen Zahlen verstecken. Und die Unsicherheit, die wir alle kennen, wenn wir die Leistung eines Schülers einschätzen müssen, können wir mit ausgeklügelten Kriterienrastern kaschieren, die unser Urteil als objektiv erscheinen lassen, obwohl es wie alle Urteile nicht so ist.

Vieles, was rund um Noten und schulische Bewertung geschieht, dient dazu, Beurteilungen objektiv wirken zu lassen und die Verantwortung für die daraus resultierenden Entscheidungen von menschlichen Akteuren zu entfernen. Die damit verbundenen Ängste sind, dass Lernende erkennen, wie willkürlich Bewertungen sind und wie unfair die daraus resultierenden Konsequenzen.

In einem guten Schulsystem müsste diese Angst durch Ehrlichkeit ersetzt werden, durch Transparenz und dann durch Verantwortung. In einem schlechten Schulsystem entsteht Druck auf die Schwächsten – die Lernenden mit den schlechtesten Beurteilungen. Diesen wird suggeriert, ihre Zurückstellung erfolge aufgrund ihrer tatsächlichen Leistung, sie hätten bestimmte Privilegien nicht verdient, weil sie nicht gut genug performen. Dabei ist das Gegenteil richtig.

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