Beurteilungen nachvollziehbar machen oder Widerstand verunmöglichen?

An den Gymnasien in meinem Kanton entsteht die Tendenz, Schüler:innen zusätzlich zu den Zeugnisnoten nach einem Semester eine verbindliche Zwischenbeurteilung nach einem Quartal anzubieten. Zwischenbeurteilungen, so könnte man denken, helfen Schüler:innen dabei, ihre Leistung besser wahrzunehmen, die Beurteilung nachvollziehen zu können. Gleichzeitig dienen sie aber aus systemischer Perspektive dazu, die Zahl der Rekurse zu verringern, also Schüler:innen und Eltern dazu zu bringen, Beurteilungen zu akzeptieren.

Wenn Beurteilungen funktionieren, dann sind sie eine vereinfachte Darstellung einer objektiven Wahrnehmung. In Sportarten, wo Schiedsrichter:innen Performances beurteilen müssen und dafür Punkte vergeben, ist das so lange unproblematisch, wie sich diese Punktvergaben mit einem Konsens unter Fachpersonen mehr oder weniger decken. Die Sportler:innen erwarten deshalb ungefähr die Beurteilung, die sie auch erhalten – wenn alles gut läuft.

Wenn sich eine Gesamtbeurteilung nicht mit der Einschätzung anderer Fachpersonen oder der Erwartung der Beurteilten deckt, dann können verschiedene Verfahren eingesetzt werden, um den daraus entstehenden Konflikt zu überdecken:

  • feinere Kriterienraster, die eine grundsätzliche Uneinigkeit als das Ergebnis vieler kleiner Unterschiede erscheinen lassen
  • Formen der Selbstbeurteilung, welche den Konflikt für die Beurteilenden absehbar machen und so erlauben, ihm auszuweichen oder ihn abzuschwächen
  • Zwischenbeurteilungen, die noch nicht abschließend sind, aber die Unzufriedenheit am Schluss deshalb unterdrücken, weil die Beurteilten ja schon hätten wissen können, wie das Urteil ausfallen wird
  • eine Mischung aus transparenten und intransparenten Kriterien (wie z.B. eine Note für die mündliche Beteiligung im Unterricht), die dann so verrechnet werden, dass das Endergebnis resultiert – wobei die Beurteilten die intransparenten Kriterien kaum angreifen können, weil sie diese weder kennen noch nachvollziehen können.

Die Liste könnte verlängert werden. Der Punkt ist: Der Konflikt wird dadurch nicht gelöst. Er wird höchsten vorhersehbar oder aus einer ernsthaften Verhandlung ausgeschlossen, was den Beteiligten erlaubt, ihn als weniger schlimm zu empfinden. Die Lösung wäre ein System, in dem Beurteilte und Beurteilende sich grundsätzlich einig sind. Das ist deshalb bei Noten in der Schule nicht der Fall, weil sie sich nicht primär auf Leistungen beziehen, sondern eine pädagogische, disziplinierende, vergleichende und existenzielle Bedeutung haben. Die Schüler:innen, das die existenzielle Bedeutung, brauchen für ihre Versetzung, für den Numerus Clausus etc. bestimmte Noten. Wie sie die erreichen, ist ihnen deshalb zunächst egal, solange sie die erforderte Schwelle überwinden können. Lehrpersonen hingegen brauchen Noten oft deshalb, weil Schüler:innen sonst die schulische Arbeite verweigern würden, da sie sich an Noten gewöhnt haben. So entsteht ein System, in dem es eigentlich gar nicht um Beurteilung geht – und ganz viele Tricks verwendet werden, um das nicht sichtbar zu machen.

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