Was passiert eigentlich, wenn wir weniger, gar nicht oder ungenau bewerten?

Am Freitag wurde ich von Lehrpersonen gefragt, weshalb ich so locker sei, was den Umgang mit Prüfungen betreffe. Viele andere hielten krampfhaft daran fest, Schüler:innen oft und möglichst genau prüfen zu müssen.

Meine Antwort: Ich weiss, dass nichts Schlimmes passiert, wenn ich darauf verzichte. Im Gegenteil: Es passieren viele gute Dinge.

Viele Kolleg:innen an Schweizer Gymnasien haben Angst vor Rekursen, also Rechtsverfahren, mit denen Eltern die Gültigkeit von Noten in Zweifel ziehen. Diese Rechtsverfahren stehen Eltern offen, es ist eine vorgesehene Form, mit einer Unzufriedenheit umzugehen. Rekurse machen Arbeit, sie sind wie viele Rechtsverfahren stressig und unangenehm. Ich arbeite gerne so, dass niemand einen Rekurs braucht. Aber wenn das so ist, kann ich nichts machen. Ich kann meine Noten so (schein-)genau wie möglich setzen und habe trotzdem keine Garantie, dass diese Noten einer juristischen Prüfung standhalten.

In der Studie von Kathleen Falkenburg gehören Lehrpersonen, für die die juristische Sicherheit bei der Notensetzung entscheidend ist, zum Typ der »Expert:in« (Genaueres dazu habe ich hier aufgeschrieben). Sie setzen Noten so, dass sie in einem imaginierten Rechtsverfahren möglichst solide sind. Diese juristische Sichtweise sollten wir aufgeben: Wenn Noten von Anwält:innen angezweifelt werden, spielt das auf einer Ebene ab, die nichts mit unserem pädagogischen Auftrag zu tun hat.

Eine andere Gruppe von Lehrpersonen orientiert sich an der Interaktion mit Schüler:innen, sie will Noten so setzen, dass Schüler:innen sie verstehen. Auch hier hat meine Einsicht, dass Noten nichts bedeuten und lediglich unpräzise Fehlanreize darstellen, eine Entspannung bewirkt. Ich muss Schüler:innen nichts erklären, ich kann ihnen sagen, dass Noten keine Bedeutung haben und ich sie nur gebe, weil ich muss. Das irritiert Lernende, weil sie in ihrer Schulsozialisation gelernt haben, dass Noten wichtig sind und Lernen oder Unterricht ohne Unterricht nicht funktioniert. In meinem Unterricht wird das performativ widerlegt – hier passiert genau das, was passieren sollte, aber ich brauche dafür keine Noten.

Zusammengefasst kann ich also die im Titel gestellte Frage wie folgt beantworten: Auf (genaue) Noten zu verzichten, hat möglicherweise rechtliche Konsequenzen und irritiert Lernende (manchmal auch Eltern). Diese Irritation ist produktiv, sie ist Teil von Ungrading, einem Prozess, in dem sich Lehrende und Lernende von Notendruck und Fehlanreizen lösen. Sie ist also positiv einzuschätzen. Die rechtlichen Konsequenzen interessieren mich nicht, weil sie mir nichts anhaben können. Ich mache nichts Illegales und orientiere mich an meinem pädagogischen Kompass, der mir sagt, was richtig und was falsch ist. Wenn Jurist*innen meine Praxis als Problem beurteilen, korrigiere ich sie oder schätze ab, ob ich mit den Konsequenzen leben kann.

Diese Einsichten geben mir das Vertrauen, das nötig ist, um mit Schüler:innen Neues auszuprobieren.