Warum Leistungen nicht Individuen zugeordnet werden sollten
Viel Problematisches an Prüfungssettings hat damit zu tun, dass Menschen Leistungen in künstlichen Situationen erbringen sollen. Ein Teil dieser Künstlichkeit ist die Isolation. Wer eine Prüfung schreibt, darf nicht mit anderen Menschen kommunizieren; darf nicht hören, was sie sagen; nicht lesen, was sie schreiben.
Warum muss eine Prüfung eigentlich alleine geschrieben werden? Weil sie angeblich die Leistung eines Individuums messen soll. Nicht nur messen sie nicht Leistung (sie messen wohl gar nichts), sie beziehen sich auch nicht auf Kompetenzen oder die Leistungen eines Individuums.
In Prüfungssituationen zeigen sich immer soziale Effekte. Zwei davon sind besonders stark:
- Die Prüfungsvorbereitung in einem langfristigen wie auch in einem kurzfristigen Sinne erfolgt im Austausch mit anderen Menschen. Was jemand weiß und kann hat damit zu tun, mit wem die Person zusammenlebt, interagiert, lernt. Wer Eltern hat, die vor jeder Prüfung die Lernziele und Materialien studieren und sich Zeit nehmen (können), sich mit der Tochter oder dem Sohn hinzusetzen und die Vorbereitung zu begleiten, zeigt in der Prüfungssituation diesen Einfluss. Dasselbe gilt für Geschwister, Peers, andere Lehrpersonen, Nachhilfeunterrichtende – sie alle tragen zum Prüfungsergebnis bei. Hinzu kommen auch negative Einflüsse, Streit, Stress, Falschinformationen etc.
- Die Prüfung wird von einer Lehrperson vorgelegt, die in einer sozialen Beziehung zu den Lernenden steht. Diese wiederum bilden einen Klassenverband. Prüfungsergebnisse zeigen viele Facetten dieses sozialen Settings, sie beeinflussen auch Noten direkt.
Was lässt sich daraus schließen? Bei Klassenarbeiten sollte nicht zu viel Aufwand darauf verwendet werden, Schüler*innen zu isolieren. Wenn sie Hilfe von anderen in Anspruch nehmen, um Aufgaben zu lösen, ist das kein grundsätzliches Problem, sondern eine Strategie, die sie bewusst und reflektiert entwickeln sollten. Christian Albrecht hat direkt nach der Phase des Fernunterrichts folgendes Fazit über zeitgemäße Prüfungsformate gezogen:
Reine Reproduktionsaufgaben, deren Antworten im Internet recherchiert und per copy/paste eingesetzt werden k.nnen, ohne dass kritisches Denken oder bestimmte Such- und Bewertungsstrategien erforderlich wären, müssen problemlösenden und Transferaufgaben weichen. Sie sollten in digitalen Prüfungssituationen so gestellt sein, dass gerade die kritische Recherche nach Informationen sowie Such- und Bewertungsstrategien gefordert sind und die Diskussion online wie offline mit anderen Novizinnen, Novizen und Expertinnen und Experten zum Lösungsweg dazugehört. – Hybrides Lernen, S. 134
Auch wenn Prüfungssettings gesetzlich erforderlich sind, die Lernende isolieren, sollte der Tatsache Rechnung getragen werden, dass individuelle Leistungen eine Fiktion sind. Nina Verheyen schreibt in »Die Erfindung der Leistung« gar, es sei eine Fiktion, dass die Leistung der Beurteilung vorausgehe. Die Prüfungssituation generiert als soziales Setting erst das, was dann im nächsten Schritt als Leistung interpretiert wird. Deshalb spielen die beiden oben genannten sozialen Aspekte in jede Leistungsbewertung rein, die in der klassischen Prüfungskultur vorgenommen wird.
Das zu reflektieren ist für Lehrpersonen wie für Lernende ein wichtiger Lernschritt. Hilfe anderer Menschen sollte nicht verboten, sondern bewusst einbezogen werden. Das ist eine wichtige Aufgabe von Unterricht.