Verbindlichkeit ohne Beurteilung – zur Emotionalisierung durch Prüfungen
In einem wirksamen Unterricht arbeiten Schüler:innen: Sie nehmen Informationen auf, üben intensiv und denken nach. Diese Arbeit einzufordern und Bedingungen zu schaffen, unter denen sie tatsächlich geleistet wird, ist eine zentrale Aufgabe von Lehrpersonen.
Prüfungen und Beurteilungen sind ein Mittel, mit denen diese Verbindlichkeit hergestellt werden kann. Die Begründungskette läuft dann so: Weil eine Prüfung benotet wird, müssen die Schüler:innen bei der Prüfung abliefern – und damit sie das können, müssen sie zuvor Informationen aufnehmen, üben und möglicherweise auch nachdenken.
Das Problem mit diesem Mittel lässt sich einfach auf den Punkt bringen: Lernen wird dadurch entwertet. In diesem didaktischen Setting geht es nicht mehr darum, was eigentlich wichtig ist (die Welt zu verstehen, etwas bewirken zu können, gute Gespräche zu führen, kritisch zu denken), sondern darum, eine gute Zahl auf dem Papier zu sehen. Sobald diese Belohnung/Bestrafung entfällt (weil z.B. die letzte Prüfung keinen Unterschied mehr macht, eine Einheit nicht geprüft wird etc.), nehmen Schüler:innen die Lernarbeit als wertlos wahr.
Sinnvoll wären Routinen und Unterrichtsformen, in denen Lernanstrengungen zu Rückmeldungen und Resultaten führen, die motivierend wirken – weil Schüler:innen Selbstwirksamkeit erleben oder das, was sie erarbeiten, für sie oder andere eine Bedeutung hat.
Die Herausforderung guter Schulen besteht nun darin, allen Schüler:innen möglichst viele Gelegenheiten anzubieten, in denen ihre Arbeit mit Selbstwirksamkeit und Bedeutung verbunden werden kann. Prüfungen sind vergleichsweise einfach – sie können flächendeckend so eingesetzt werden, dass sie viele Emotionen freisetzen: Druck, Angst, Erleichterung, soziale Vergleiche. Das erzeugt eine minderwertige Verbindlichkeit mit hohen, aber versteckten Kosten: Viele Schüler:innen verbinden Lernen mit negativen Emotionen, die Schule belastet sie, sie trauen sich wenig zu. Das merkt man nicht bzw. ordnet das geringem Leistungsvermögen zu.
Sobald man auf Prüfungen als Mittel für das Erzeugen von Verbindlichkeit verzichtet, gibt es weniger Druck, was spürbar wird: Einige Schüler:innen merken noch nicht, worin die Bedeutung ihres Lernens für sie liegt. Besonders rund um die Pubertät fühlen sich nicht-schulische Lernprozesse deutlich wichtiger an als schulische. Das führt dazu, dass der Aufwand beim Design der Lernumgebung viel höher ist.
Prüfungen sind effizient in der Emotionalisierung des Lernens – aber auch schädlich. Wer Verbindlichkeit ohne Prüfungen herstellt, kann das nur exemplarisch und selektiv machen. Es ist nicht denkbar, gleich flächendeckend wie mit Prüfungen Lernen in eine emotionale und verbindliche Struktur einzubinden. Aber: Wenn das an einzelnen Stellen gelingt, hat es Effekt, die für ein Leben lang wirksam sind. Lernende nehmen aus den Möglichkeiten, in denen sie im hier beschriebenen Sinne positive Lernerfahrungen machen durften, viel mehr mit als von Hunderten von Prüfungen. Wir dürfen daher haushälterisch mit unseren Mitteln umgehen, wenn wir Ungrading betreiben.