Noten als Nebensache
Spricht man mit Menschen, die den Glauben an Noten aufgegeben haben (bzw. Ungrading durchlaufen haben), dann erzählen sie immer wieder davon, wie sie Bewertungsvorgängen ausgesetzt waren. Oft erwähnen sie, dass die Noten für sie gar nicht mehr relevant gewesen seien, dass sie eigentlich gar nicht wissen wollten, was die genaue Note war. Entscheidend sei der Lernprozess, seine Reflexion und das mit beidem verbundene Feedback. Eine Zahl dagegen fast lächerlich, eine bürokratische Notwendigkeit.
Lehrpersonen, die so denken, möchten Schüler:innen zu dieser Sichtweise einladen. Sie stellen reflektierte Lernprozesse und Feedback ins Zentrum ihres Unterrichts und ihrer Bewertungskultur. Dennoch verlieren Noten für Schüler:innen ihre Bedeutung selten. Sie werden nicht zur Nebensache, obwohl Lehrpersonen das gern möchten. Woran liegt das?
- Noten sind als Bewertung maximal vereinfacht und verdichtet. Sie unterlaufen damit die Differenzierung, welche Reflexion und Feedback ermöglichen – und eignen sich für die knappste Kommunikation, die für den Vergleich mit Mitschüler:innen und die Information der Eltern nötig ist. Deshalb wirken Noten wie populistische Botschaften: Schneller und stärker, weil sie nicht differenziert sind.
- Noten sind (scheinbar) die Basis für Entscheidungen: Schüler:innen haben den Eindruck, über Selektion und andere Faktoren würden letztlich die harten Zahlen entscheiden. Deshalb fokussieren sie sich darauf.
- Das hat auch damit zu tun, dass man Noten verrechnen kann. So schaffen sie Bezüge zwischen verschiedenen Fächern und Bewertungskulturen: Die ungenügende Note in Deutsch kann mit der guten Mathe-Note 'kompensiert' werden – auch wenn die in Deutsch noch nicht ausgebildeten Kompetenzen mit den in Mathe vorliegenden nichts zu tun haben.
- Die Illusion der Messbarkeit: Noten wirken so, als seien sie aus Messungen entstanden. Alles Gerede drumherum kann diesen Anspruch nicht einlösen, es wirkt so, wie es zustande kommt: Als Gedanken und Meinungen von Menschen. Noten hingegen sehen aus, als seien sie objektiv, vergleichbar, belastbar. Nichts davon stimmt, sie sind genau so subjektiv von Menschen gemacht wie ihre Aussagen. Aber sie sehen halt nicht so aus.
- Schulsozialisation: Schüler:innen beginnen ohne Noten zu lernen und werden dann eingeführt. Noten gibt es für wichtige Fächer, wichtige Entscheidungen. Lehrpersonen geben sich viel Mühe bei den Noten, Eltern und Grosseltern legen darauf viel Gewicht. Noten müssen ent-lernt werden, Ungrading ist ein komplexer Prozess, den selbst Lehrpersonen nur selten durchlaufen. Es von Schüler:innen zu erwarten ist recht schwierig.
Was können Lehrpersonen und Schulen tun? Erstens immer wieder sagen, dass Noten nicht wichtig sind, dass sie wirklich nur eine bürokratische und gesetzliche Notwendigkeit sind, die pädagogisch keine Funktion hat. Zweitens das auch leben: Entscheidungen fällen, ohne auf Noten zu achten, mit Schüler:innen und ihren Eltern nicht über Noten reden, sondern übers Lernen. Keine performativen Widersprüche erzeugen. Und drittens so selten wie möglich Noten geben. Ideal: Nur in den Zeugnissen, sonst nicht mehr. Die Zeugnisnoten setzen, nicht berechnen. Nicht möglichst viele Noten haben, sondern möglichst wenig.