Beurteilung mit Kompetenzrastern: die ersten Semesternoten
In diesem Semester führe ich nicht nur keine Prüfungen durch, ich gebe Schüler:innen auch keine Noten mehr während des Semesters. Dafür erhalten sie ein digitales Kompetenzraster, das ich laufend nachführe. In einer früheren Folge dieses Newsletters habe ich schon beschrieben, warum und wie ich genau vorgehe. Dann habe ich eine Zwischenbilanz gezogen, ihr findet sie hier. Heute erzähle ich nun, wie ich zu den Semesternoten gekommen bin. Ich versuche, für mich wichtige Aspekte zu vertiefen.
- Abgründe bei der Notenabgabe
Ich habe mit ganz verschiedenen Systemen Noten gemacht. Am Schluss bleibt bei mir immer ein ganz schlechtes Gefühl. Ich muss einer Person einen Wert zuweisen, was gegen jede pädagogische Meinung, die ich jemals hatte, verstößt. Es behindert meine Arbeit, es belastet die Beziehung zu den Lernenden, es führt zu Frustration. Noten setzen ist eine juristische Notwendigkeit, aber es gibt keinen für mich akzeptablen Weg, es zu machen. Ich bin nicht zufrieden mit den Noten, ich kann ihnen keinen noch so kleinen positiven Aspekt abgewinnen. Meine Arbeit und das Lernen der Schüler:innen wären beide ohne Noten viel besser. - Asymmetrie beim Glauben
Während ich überhaupt nicht an Noten glaube (in dem Sinne, dass sie keine Informationen enthalten und nicht ausdrücken, was jemand kann oder geleistet hat), lernen meine Schüler:innen oft gleichzeitig, wie wichtig Noten sind. Sie bauen einen Glauben auf, den ich längst verloren habe. Das führt zu seltsamen Gesprächen und Konflikten. Mein System wirkt für Lernende wie eine Ausnahme, als würde ich wichtigen Regeln und Gesetzen nicht folgen. Es braucht viele Diskussionen, um ihnen verständlich zu machen, worum es mir geht. - Misstrauen von anderen Lehrpersonen
Man munkle, wurde mir kürzlich gesagt, mit meinem neuen System gäbe es gar keine ungenügenden Noten mehr, ob das denn tatsächlich stimme? Diese Frage ist Ausdruck eines Misstrauens, das andere Lehrpersonen, die Noten aus Prüfungen berechnen, mir gegenüber haben. Wenige sprechen das direkt an, einige aber hinter meinem Rücken. Ich kann damit leben, ich verstecke nichts. Und ich weiß, dass neue Wege nicht immer auf Akzeptanz stoßen. - Zu wenige Punkte, zu wenig Zeit
Ich habe mir zu viel vorgenommen. Gerade bei grossen Klassen pro Person über 15 Kompetenzen einschätzen und Nachweise nachvollziehen zu können, ist zu viel. So merkten engagierte Schüler:innen, dass es ihnen wohl nicht möglich ist, die angestrebte Semesternote zu erreichen. Es war für viele auch eine Überforderung, die Aufgabe zu übernehmen, Nachweise zu erbringen (statt Prüfungen zu schreiben).
So musste ich dann zum Schluss den Maßstab anpassen oder Noten einfach nach Ermessen setzen. Das zeigt beides zwar noch mal, wie willkürlich Noten ohnehin sind – aber stellt für mich auch das Verfahren etwas infrage. - Nächstes Semester
Ich werde dabei bleiben, keine Prüfungen und keine Noten während des Semesters zu machen. Neu werde ich aber kleinere Kompetenzraster pro Unterrichtseinheit ausfüllen. Schüler:innen werden so ihren Stand immer wieder einschätzen können. Das konkrete Verfahren werde ich hier wieder dokumentieren.