Systemische Widersprüche bei der Beurteilung

Diese Woche schreibe ich wieder einen zusammenhängenden Beitrag, der sich einer Fragestellung widmet. Nächste Woche dann wieder These, Tweet und Text.

Schulen verlangen aus unterschiedlichen Gründen, dass Leistungen von Schüler*innen beurteilt werden müssen:

  1. um Informationen über den Leistungsstand von Lernenden zu erheben und sie (z.B. an Eltern) zu kommunizieren
  2. um Verbindlichkeit herzustellen: Schüler*innen müssen zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Leistung erbringen
  3. um Motivation für schulisches Lernen zu erzeugen.
  4. um Lehrpersonen dazu zu zwingen, Schüler*innen Feedback zu geben
  5. um Schüler*innen, Klassen und Lehrpersonen untereinander zu vergleichen
  6. um Selektionsentscheide fällen und begründen zu können
  7. um Schüler*innen auf eine spätere Leistungsbeurteilung vorzubereiten (an der nächsten Schule, im Studium, im »echten Leben«)
  8. um Schüler*innen dazu anzuregen, über ihre Leistungen und ihr Lernen nachzudenken.

Wenn Prüfungen benotet werden, dann kann eine Schule also sicher sein, dass ein Leistungsstand erhoben wird, Eltern darüber informiert werden, eine gewisse Verbindlichkeit vorhanden ist, Schüler*innen ab und zu Feedback erhalten, wenn nötig miteinander verglichen werden können etc.

Die Forderung, auf Noten zu verzichten, wirft nun in jedem der acht Bereiche die Frage auf, wie denn das ohne Noten möglich sein sollte. Dabei zeigen sich gewisse Widersprüche: Ohne Noten würden Schüler*innen wohl intensiver über ihr Lernen nachdenken, obwohl sich das aktuell nicht so anfühlt. Das bedeutet, dass Noten gewisse Prozesse belasten, sie scheinen etwas zu erleichtern, was aber gar nicht der Fall ist. Das ist auch bei Feedback oder Motivation der Fall: Ohne Noten entsteht besseres, hilfreicheres Feedback und mehr Motivation – wenn Lehrpersonen dafür gute Lernumgebungen gestalten können. (Denkbar ist auch ein unstrukturiertes Chaos, bei dem alle die Lust verlieren.)

Gleichzeitig kürzen Noten gewisse Prozesse ab – wenn auch unzulässig: Selektionsentscheide oder Vergleiche mit Noten zu stützen scheint einfach zu sein, ist aber sinnlos. Noten sind ungenau und werden dafür missbraucht, in einem unfairen System Zuteilungen zu begründen, die an sich unfair und problematisch sind. Ihr Wert liegt darin, diese Probleme zu verstecken und scheinbar objektive Maßstäbe herzustellen, die es so aber nicht gibt. Wir können bei einem Kind schlicht nicht vorhersagen, was und wie es in zwei oder fünf Jahren lernen wird. Zu behaupten, Noten seien der beste Weg, da zu tun, ist wie wenn jemand sagt, hoch in die Luft zu springen sei der beste Weg, um fliegen zu lernen.

Zuletzt gibt es im System aber tatsächlich weiterhin Prüfungen, Noten und summative Beurteilungen. Sich diesen zu stellen kann jemand nur lernen, indem er oder sie es tut: Wer gute Prüfungen schreiben will, muss geprüft werden und das üben.

Der Verzicht auf Noten verändert das System nicht. Der Verzicht müsste systemisch erfolgen. Das hieße:

  • es müssten gute Lernumgebungen vorhanden sein, in denen Feedback, Verbindlichkeit, Motivation entstehen, ohne dass Druck erzeugt werden muss
  • Lehrpersonen und Schüler*innen müssten in eine Beziehung treten können, in denen sie nicht ständig die Rollen wechseln müssen und in denen sie lernen, differenziert über Lernen und Leistung zu sprechen
  • Selektion und Zuteilungen müssten vermieden oder über Verfahren gelöst werden, in denen Menschen ernst und wahrgenommen werden – nicht nur ihre Noten
  • es können nicht einzelne Bereiche des Bildungsystems entnotet werden, wenn in anderen Noten weiterhin eine zentrale Bedeutung einnehmen.

Noten sind so gesehen ein Zeichen dafür, wie schlecht das Bildungssystem funktioniert. Überall dort, wo Noten sinnvoll erscheinen, versteckt sich ein massives Problem. Das erkennt man daran, wenn man sich überlegt, wann Menschen in gut funktionierenden Teams, Freundschaften und Familien mit Ziffern beurteilen. Sie tun das nie.