Noten als falsche Anreize – und wie richtige aussehen könnten
Noten sind Anreize, die über Lernaufgaben gelegt werden. Das ist eine sachlichere Sicht, als die Rede über »extrinsische Motivation«, die von vielen Missverständnissen über Motivation geprägt ist.
Der Wirtschaftswissenschaftler Uri Gneezy setzt sich seit Jahrzehnten mit Anreizen und ihrer Funktionsweise auseinander. Kürzlich ist sein Buch »Mixed Signals« erschienen, in dem er wesentliche Erkenntnisse zusammenfasst. Gneezy ist ein Verfechter von Anreizen, gerade weil in jeder sozialen Situation Anreize existieren, auch wenn sie nicht explizit gesetzt werden. Gneezy beobachtet einige grundsätzliche Probleme mit Anreizen, die in diesem Newsletter auf Noten angewendet werden:
- Anreize regen oft zu unerwünschten Verhaltensweisen an, weil sie nicht das belohnen, was belohnt werden sollte.
- Anreize vermischen oft unterschiedliche Botschaften (»Mixed Signals«), die zu Widersprüchen führen.
- Reagieren Menschen auf Anreize, senden sie Signale aus. Diese sind oft sozial (sie haben eine Wirkung auf andere), beziehen sich aber auch auf die handelnde Person selbst. Sie erzeugt eine Botschaft an sich selber. Soziale und selbstbezogene Signale verstärken sich nicht immer, sie können auch zu Widersprüchen oder Abschwächungen führen.
Eine der zentralen Thesen des Buches besagt, dass Anreize ausdrücken, was den Verantwortlichen wirklich wichtig ist – auch wenn sie etwas anderes sagen. Gneezy zeigt das an häufigen Widersprüchen:
- Verantwortliche betonen langfristige Effekte, belohnen mit Anreizen aber kurzfristige Anstrengungen.
- Anreize beziehen sich auf Quantität, obwohl beteuert wird, Qualität stünde im Vordergrund.
- Zusammenarbeit wird als wichtiger Wert für ein Unternehmen bezeichnet, Anreize beziehen sich aber immer auf individuelle Ergebnisse.
- Verantwortliche streben Innovation an, bestrafen mit Anreizen aber Fehler.
All das lässt sich direkt auf Prüfungen übertragen, bei denen Noten oder Punkte die Anreize darstellen. Vieles, was Schulen und Lehrpersonen gerne möchten, steht im Widerspruch zur herrschenden Prüfungskultur. Das lässt sich einfach daran zeigen, dass viele Lehrpersonen erwarten, dass Schüler*innen selbst- und sozialkompetent agieren und Verantwortung übernehmen – das aber überhaupt nicht in die Bewertung einfließen lassen. Schulische Prüfungen belohnen «learning to the test», also kurzfristiges Binge-Learning, erfordern oft schnelle, kalkulierte Arbeit statt sorgfältiges Nachdenken, isolieren Lernende und bestrafen sie für Fehler, statt ihnen Mut zu machen, Problemen kreativ und innovativ zu begegnen.
Gneezy hat mit einem Team die PISA-Tests untersucht. Dabei hat er festgestellt, dass es zwei Faktoren gibt, die Testergebnisse beeinflussten:
- Fähigkeiten der Teilnehmenden
- Bereitschaft, sich beim Test anzustrengen.
Da der PISA-Test keine Rückmeldungen vorsieht (weder an die Teilnehmenden noch an ihre Lehrpersonen), braucht es sehr idealistische Schüler*innen, um von allen maximale Anstrengung zu erwarten. Gneezys experimentell gestützte These lautet nun: Die PISA-Resultate können zu einem Teil über die kulturelle Bereitschaft erklärt werden, sich für das eigene Land oder für die Wissenschaft anzustrengen.
Wenn wir nun Noten als Anreizsysteme designen, müssen wir sehr vorsichtig sein, wenn wir das richtig machen wollen. Die Fehlanreize im aktuellen System sind so groß, dass ich es vernünftig fände, erst einmal darauf zu verzichten. Das bedeutet dann aber nicht, dass es keine Anreize mehr gäbe – es gäbe einfach weniger problematische Anreize. Basierend auf den Erkenntnissen von Gneezy stellt sich folgende Frage: Worauf müsste man achten, wenn man Noten als sinnvolle Anreize einsetzen möchte?
- Self Signaling und Social Signaling
Jugendliche möchte grundsätzlich gute Schüler*innen sein. Gute Anreize verstärken diese Motivation und machen sie verbindlich, schlechte Anreize treten in einen Widerspruch dazu. Ist eine gute Schülerin eine, die mit anderen zusammen Probleme anpackt, mutig denkt, Fehler macht und viel Energie in ihr Lernen steckt – oder eine, die bei Prüfungen unter Zeitdruck gute Noten erhält?
Gneezy schlägt Arbeitgebenden vor, Angestellten eine Geldsumme anzubieten, wenn sie den Job verlassen. Wer die z.B. 20'000 Euro nimmt, zeigt: Der Person war diese Anstellung nicht besonders wichtig. Wer sie nicht nimmt, sagt: Ich beweise mir und anderen, dass mir die Tätigkeit hier mehr bedeutet als dieses Geld.
Sowas könnten Schulen mit Arbeitsbelastung machen: Schüler*innen könnten sich dafür oder dagegen entscheiden, weniger Zeit für die Schule aufwenden zu müssen. Diese Entscheidung wäre ein starkes Signal dafür, dass ihnen das Lernen und die Schule etwas wert ist. Die gegensätzlich würde sie entlasten. - Vorschussbewertung
»Welche Note möchtest du in diesem Fach in diesem Semester erreichen?« Diese Frage führt dazu, dass Schüler*innen sich und anderen gegenüber ein Commitment eingehen, das einen langfristigen Leistungshorizont umfasst. Daran könnten dann entsprechende Performance-Ziele geknüpft werden (»Wenn du diese Note erhalten möchtest, musst du Ziel a, b und c erreichen.«). - Verzicht auf Isolation und Zeitdruck
Schüler*innen erbringen Leistungen, in dem sie sowohl die Hilfsmittel wie auch die Zeit selbständig managen. Einschränkungen in diesen Bereichen sind ausschließlich Fehlanreize, sie sind mit der Illusion verbunden, Menschen könnten alleine und unter Zeitdruck gut arbeiten (oder würden dann zeigen, was sie wirklich können). - Daten auswerten statt Punkte sammeln
In »Building a Thinking Classroom« (mehr dazu in einem späteren Newsletter) erklärt Peter Liljedahl, wie er Schüler*innen anhand von Daten bewertet, um ihre Kompetenzen erfassen zu können. Er nimmt eine langfristige Perspektive ein. Damit setzt er die richtigen Anreize, die z.B. verhindern, dass Schüler*innen ausrechnen, dass sie in der letzten Prüfung auch gar nicht lernen können, wenn sie eine bestimmte Note erreichen möchten.
Ganz allgemein braucht es eine Reflexion darüber, welche Anreize in der Schule gesetzt werden. Wie welche Verhaltensweisen belohnt und welche sanktioniert werden, ist ein zentraler Aspekt pädagogischer Praxis. Entscheidend ist – das ist der zentrale Punkt bei Gneezy – wie wir handeln, nicht, was wir sagen. Was wir von Schüler*innen einfordern, muss sich für sie lohnen.