Ja: Das ist ernst gemeint. Eine Replik auf Roland Reichenbach
In Vorträgen und Interviews, kürzlich etwa in der Ausgabe 2/25 des Qi vom MVZ, nimmt Roland Reichenbach eine Gegenposition zu Ungrading ein. Reichenbach ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich. Menschen, die sich gegen Noten (und Hausaufgaben) einsetzen, bezeichnet er als «ein paar gutmütige Leute», apodiktisch hält er fest: «Ein Gymnasium ohne Hausaufgaben und ohne Noten ist eine Chimäre.» (pdf, im Folgenden zitiere ich aus diesem Dokument)
Ich möchte kurz auf Reichenbachs Kritik antworten, zumal er argumentative Auseinandersetzungen durchaus zu begrüssen scheint. Seine Argumentation hat zwei Teile – einen systemischen und einen nostalgischen.
Gymnasien als «annehmende» und «abgebende» Schulen
Die «Legitimierung von Selektionsentscheidungen», so Reichenbach, sei eine Hauptfunktion von Gymnasien. Die Entscheidung, wer ein Gymnasium besuchen darf und dadurch letztlich die Chance erhält, studieren zu dürfen, muss über Noten (oder vergleichbare Bewertungen) legitimiert werden. Anders sieht das bei Grundschulen aus (die alle aufnehmen und nur abgeben) und bei Hochschulen (die nicht abgeben, sondern nur aufnehmen). Gymnasien müssen also quasi doppelt selektionieren. Deshalb hält Reichenbach Noten für alternativlos.
Meine Antwort darauf bezieht sich einerseits auf Reichenbachs Annahme, dass Gymnasien selektionieren müssen. Sie könnten (und sollten) ein möglicher Bildungsweg sein, der allen offen steht. Eine «Rechtfertigung ungleicher Zukunftschancen» ist nicht nötig, weil ein staatliches Bildungssystem, das durchdacht ist, nicht darauf angewiesen ist, bestimmten Schüler:innen schlechtere Zukunftschancen einzuräumen. Die Annahme Reichenbachs zeugt entweder von einer gewissen Resignation in Bezug auf die Veränderbarkeit sozialer und politischer Systeme – oder von Zynismus. Andererseits würde ich Reichenbach entgegnen, dass es bessere Selektions- und Legitimationsverfahren gibt als Noten. Mir kommen drei in den Sinn:
- Auslosen, wie das Sandel vorschlägt – dann sind die ungleichen Zukunftschancen klar kommuniziert und werden über eine allen zugängliche Lotterie verwaltet
- Kompetenzorientierte, adaptive Tests – dann wird tatsächlich das geprüft, worum es gehen sollte und die Noten inhärente Verzerrung fällt weg
- Menschliche Entscheidungen – bei Bewerbungen auf ausgeschriebene Stellen entscheidet eine Gruppe Menschen und verwaltet dadurch ebenfalls unterschiedliche Zukunftschancen, sie verantwortet aber den Entscheid.
Das Grundproblem von Noten ist, dass sie die negativen Aspekte aller drei besseren Möglichkeiten vereinen und steigern: Sie sind unfair wie 1., weil Menschen oft nichts dafür können, dass sie bessere oder schlechtere Chancen erhalten. Sie sind verzerrt wie 2., indem es zwar so aussieht, als wäre die Leistung ausschlaggebend, diese Leistung ist aber ein soziales Konstrukt, in das viele wichtige Fähigkeiten nicht einfliessen und in dem eine gerechte Bewertung gar nicht denkbar ist. Und 3. dienen Noten der Verwantwortungsdiffusion, wie bei Absagen die Verantwortlichen nie klar kommunizieren, was die Gründe für die Wahl anderer Bewerber:innen sind, muss in einem Notensystem niemand erklären, warum jemand besteht oder nicht – die Zahlen ersetzen die Begründung.
Mehr Sensibilität für Leistungsdruck
Reichenbach stellt eine erhöhte Empfindsamkeit für Leistungsdruck fest. Damit erklärt er, dass der Druck nicht grösser geworden sei. Vielmehr hätten junge Menschen verlernt, zu leiden. «Ich sehe, dass die Anstrengungsbereitschaft bei vielen (auch Studierenden) nicht allzu gross ist.» Die nostalgische Vorstellung, dass Menschen früher leidensfähiger und leistungsbereiter gewesen seien, überträgt Reichenbach auch auf Lehrpersonen, diese seien leidenschaftslos und verunsichert. «[Diese Generation] weiss selber nicht mehr, was ist und was sie will und projiziert ihre innere Leere auf die jüngere Generation.»
Meine Antwort: Ich weiss ziemlich genau, was ich will. Und zwar eine Schule, in der niemand leiden muss, in der Leistung nicht mit Druck verbunden ist, in der Studierende Professor:innen nicht beweisen müssen, wie bereit sie für Anstrengungen sind, sondern in denen Lehrende Lernende dabei unterstützen, Ziele zu entwickeln und zu erreichen. Ein kritischer Blick auf die Vergangenheit kann dabei helfen zu verstehen, wo die Probleme eines System liegen, das eine problematische Vorstellung von Leistung und Bewertung als so selbstverständlich erklärt, dass jede Kritik daran abprallt. Entsprechend würde ich mir wünschen, dass Reichenbachs Frage «Est-ce que monde est sérieux?» nicht als Entwertung von Menschen wie mir gebraucht werden, die mit guten Gründen an einer Verbesserung des Bildungssystems arbeiten, sondern wie im Chanson von Cabrel als Kritik an einer überholten Tradition, die wir gemeinsam verändern können.